Krimiautorin Gudrun Lerchbaum: „Den lustvollen Blick auf das Verbrechen kann ich nicht teilen“

Porträt Gudrun Lerchbaum
Gudrun Lerchbaum wuchs in Wien, Paris und Düsseldorf auf. An der TU Wien studierte sie Architektur und arbeitete anschließend mehrere Jahre als Architektin. Darüber hinaus konzipierte sie Kunst am Bau und Textilkunst.  Ab 2009 veröffentlichte sie in zahlreichen Anthologien Kurzprosastücke und Aphorismen. 2015 erschien mit „Die Venezianerin und der Baumeister“ ihr erster Roman, dem 2016 „Lügenland“, 2018 „Wo Rauch ist“ und 2022 „Das giftige Glück“ folgten. Gudrun Lerchbaum ist Mitglied in den AutorInnenvereinigungen Herland, Das Syndikat, Mörderische Schwestern und Österreichische KrimiautorInnen. Sie ist Mutter einer Tochter und einer Stieftochter und lebt als freie Schriftstellerin mit ihrem Mann in Wien.
(c) Autorinnenfoto: Martin Jordan

Medical Murder Mystery: Lass uns mit Deinem letzten Buch beginnen, „Das giftige Glück“. War das perfektes Marketing, oder schöner Zufall, dass es genau gleichzeitig erschienen ist mit der Neuregelung des Assistierten Suizids in Österreich, Anfang Jänner 2022?

Gudrun Lerchbaum: Das war Zufall, das kann man so natürlich nicht planen. Aber dieses Thema war ja schon jahrelang in Diskussion. Ich wurde auch oft gefragt, ob der Roman eine Verarbeitung der COVID-Pandemie war. Tatsächlich hatte ich den Roman bereits zu drei Viertel fertig, als die Pandemie ausgebrochen ist.

MMM: Aber du hast das Buch unter dem Eindruck von Corona nochmals bearbeitet?

Gudrun Lerchbaum: Ja, sicher. Ich habe zum Beispiel diese Verschwörungserzählungen aufgegriffen und mich hier in den sozialen Medien inspirieren lassen.

MMM: Dein Verlag Haymon hat das Buch sehr stark mit dem Thema Sterbehilfe bzw. Assistierter Suizid assoziiert und positioniert. Aber es ist doch deutlich vielfältiger. War diese Debatte eigentlich auch die auslösende Grundidee für Dich?

 Gudrun Lerchbaum: Die auslösende Grundidee war vor allem die Überlegung, ob es so etwas wie den „guten Tod“ gibt. Diese Idee ist nach dem Tod eines Freundes entstanden, von dem ich wusste, dass er nach einem Nahtoderlebnis sehr versöhnt war mit dem Sterben. Er hat in seinem Leben alles gemacht, was er sich vorgenommen hat. Beim ersten Herzstillstand, der in einer Arztpraxis passiert war, konnte er nach längerer Zeit wiederbelebt werden. Aber er wollte, so hat er es erzählt, eigentlich gar nicht zurückgeholt werden. Es ist immer schmerzvoll, wenn ein Freund geht, aber in dem Fall war die besondere Situation, dass es für ihn selbst in Ordnung war, zu sterben. Das ist schon sehr speziell. Darüber habe ich viel nachgedacht. Der friedliche Tod ist ein altes Thema. Wenn man wüsste, man könnte schmerzfrei und „gut“ sterben, was macht das mit uns und mit der Gesellschaft? Das war meine Fragestellung. Ich gehe das Schreiben immer wie eine wissenschaftliche Versuchsanordnung an. In dem Fall kam zur Grundidee die Versuchsanordnung, dass ein Mittel für einen euphorischen Tod frei zur Verfügung steht und damit eine große Hemmschwelle wegfällt.

MMM: Du beschreibst, was das gesellschaftlich alles auslöst: Wie das Mittel von Kriminellen genutzt wird, wie Menschen zu Suicide-Parties gehen und dabei noch einmal ordentlich ausgenommen werden und so weiter. Und du behandelst auch zum Thema Assistierter Suizid oder Sterbehilfe viele verschiedene Facetten, ohne in die Falle einer Positionierung zu gehen.

Gudrun Lerchbaum: Ich wollte keine Stellung beziehen. Ich denke, ein selbstbestimmter Tod gehört zu einem selbstbestimmten Leben, aber ich schließe natürlich auch nicht aus, dass es da Missbrauchspotenzial gibt. „Das giftige Glück“ ist kein Sachbuch über das Sterben, und es ist auch keine Agitationsschrift. Ich wünsche mir, dass die Leserinnen und Leser sich selbst mit dem Thema beschäftigen, das möchte ich anstoßen. Und dass das funktioniert, das ist auch ein häufiges Feedback zu meinen Büchern.

MMM: Eine Protagonistin in dem Roman leidet an Multipler Sklerose, und du beschreibst manche Symptome sehr präzise. Wie bist du da die Recherche angegangen?

Gudrun Lerchbaum: Ich kannte eine Frau sehr gut, die an MS litt. Sie hat manches beschrieben, das ich hier aufgegriffen habe. Und sie hat mich dazu inspiriert, über eine chronisch kranke Person zu schreiben, die sich nicht über ihre Krankheit definiert, sondern über ihre Selbstbestimmung. Sonst gibt es aber nicht viel Ähnlichkeit mit der Romanfigur, die es auch schon in einem anderen Buch gibt. Für diese Figur habe ich das Thema intensiv recherchiert, ich habe unter anderem über Vermittlung der Österreichischen MS-Gesellschaft mit einer Frau mit MS gesprochen, die mir sehr freigiebig über ihr Erleben, ihren Verlauf und ihre Symptome erzählt hat. MS ist ja eine sehr vielfältige Erkrankung, das macht die Beschreibung einfacher. Insgesamt ist die Figur natürlich ein Phantasieprodukt.

MMM: Du hast erwähnt, dass die MS-kranke Olga sschon in einem deiner früheren Romane vorkam, das gilt aber auch für andere wie Adrian, der gleich zu Beginn der Geschichte sterben muss, oder Olgas Helferin und Freundin Kiki. Wird sie noch einmal vorkommen in einem nächsten Buch?

Gudrun Lerchbaum: Nein, es wird wieder ganz neue Figuren geben. Das nächste Buch wird im Herbst 2023 erscheinen. Es wird sich einem ganz anderen Thema widmen. Ich will immer wieder etwas Neues machen, alle meine Bücher unterscheiden sich ganz wesentlich voneinander.

MMM: Sie unterscheiden sich, aber sie haben schon auch klare Gemeinsamkeiten. Eine davon ist, dass du aktuelle, brennende Themen aufgreifst, die Du dann sehr phantasievoll bearbeitest.

Gudrun Lerchbaum: Mir ist gesellschaftspolitisches Engagement wichtig. Es steht auch eine klare feministische Haltung hinter meinen Büchern.

MMM: Das zieht sich durch in deine Arbeit. Ein interessanter Aspekt ist auch, wenn wir es am Beispiel von „Das giftige Glück“ festmachen, dass der Mord nur so nebenbei erzählt ist, andere Themen sind viel wichtiger als die Auflösung des Mords. Du hast zwar die üblichen Krimi-Elemente wie Mordermittler und Verhöre, aber sie spielen keine zentrale Rolle wie in anderen Krimis. Interessiert dich das klassische Format nicht oder kannst du auf diese Art einfach deine Themen besser erzählen?

Gudrun Lerchbaum: Tatsächlich interessiert mich das klassische Krimiformat nicht sehr. Ich plotte auch nicht. Ich habe meine Versuchsanordnung, und ich weiß sehr viel über meine Figuren und mein Ausgangsthema, wenn ich beginne. Dann lasse ich mich sehr durch die Figuren leiten, da brauche ich Zeit und Ruhe. Ich erfülle nicht einen Plan von vorher festgelegten Kapiteln, sondern ich begebe mich sehr tief in die Emotionen meiner Figuren, folge ihnen, und überarbeite auch ständig. Das ist ein intensiver Prozess. Es interessiert mich nicht, am Beginn schon zu wissen, wie sich die Geschichte auflöst. Ich mag es auch beim Lesen nicht besonders, wenn Tod und Mord geradezu lustvoll abgehandelt werden. Ich möchte es meinen Figuren, denen gegenüber ich sehr loyal bin, nicht antun, dass sie richtig böse sind und jemanden aus niedrigen Motiven umbringen. Die haben alle Defizite, aber sie sind keine schlechten Menschen. Den lustvollen Blick auf das Verbrechen kann ich nicht teilen.

MMM: Bleiben wir bei dir als Leserin: Welche Krimis, idealerweise aus dem Wissenschafts- und Medizinbereich, gefallen dir richtig gut?

Gudrun Lerchbaum: Ich mag zum Beispiel die Krimis von Ellen Dunne gerne, die in Dublin spielen. Mein Lieblingskrimi der letzten Jahre ist Lady Bag von Liza Cody, der aus der Perspektive einer obdachlosen Frau erzählt. Bei Wissenschaftskrimi denke ich an Ursula Poznanski, die das richtig gut kann. Auch die Wissenschaftskrimis von Bernhard Kegel haben mir gut gefallen. Ich finde es immer spannend, wenn ich beim Krimilesen etwas lerne und einen neuen Blick auf die Welt bekomme. Im Moment lese ich zum Beispiel „The Candy House“ von Jennifer Egan, auch eine große Empfehlung.

MMM: Liest du anders und andere Bücher, seit du selbst schreibst?

Gudrun Lerchbaum: Ja, ich lese seither völlig anders. Ich konnte mich früher viel leichter in eine Geschichte hineinfallen lassen, jetzt gehe ich da viel analytischer vor. Am leichtesten gelingt es mir noch, mich in eine Geschichte zu vertiefen, wenn ich Bücher auf Englisch lese. Wenn ich in der Endphase eines Romans bin, lese ich nur englischsprachige Bücher im Original, weil mich dann die Sprache und der Stil nicht so ablenken. Ich denke sonst so viel über Formulierungen nach, besonders über misslungene. Du hast in der Rezension zu „Das giftige Glück“ geschrieben, das Buch habe eine unprätentiöse Sprache. Das ist mir auch tatsächlich wichtig, aber das heißt nicht, es wäre einfach: Ich arbeite sehr lange daran, ich will nichts Überflüssiges, keine Redundanzen, und ich versuche, sehr präzise zu formulieren. Daher schaue ich auch bei anderen Texten sehr genau auf die Sprache.

MMM: Du bist gelernte Architektin. Wie kamst Du denn vom Planen zum Schreiben?

Gudrun Lerchbaum: Was ich sicher in der Architektur gelernt habe, ist, Dinge konsequent zu verfolgen und dranzubleiben, auch wenn es frustrierend werden kann. Und auch, dass ich mich der Kritik anderer stellen kann und möchte.

Interview: Birgit Kofler

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