Gudrun Lerchbaum: Das giftige Glück

Cover des Krimis "Das giftige Glück"

Ist es ein Krimi, haben manche Rezensentinnen oder Rezensenten gefragt. Nun, wichtige Zutaten wie fremdverschuldete Todesfälle und eine interessante Droge, die sich auch als Waffe einsetzen lässt, sind jedenfalls vorhanden. Ist es ein Medizinkrimi, haben wir uns gefragt. Jedenfalls gibt es eine schwer kranke Protagonistin, Themen wie Selbstbestimmung am Lebensende und assistierter Suizid, also ist es natürlich einer. Aber nicht nur. „Das giftige Glück“ ist noch viel mehr, eine vielschichtige, kreativ erdachte und sensibel erzählte Geschichte mit beeindruckenden Protagonistinnen und einer erstaunlichen Ausgangssituation, die es Gudrun Lerchbaum einmal mehr erlaubt, jede Menge aktuelle und brisante Themen in eine spannende Romanhandlung zu verpacken.

Bemerkenswerte Bärlauchsaison

Regelmäßig im Frühling diskutieren Kolumnisten und Lifestyle-Journalistinnen, Gourmets und Köchinnen wieder über das grüne Lauchgewächs, das für einige Zeit allgegenwärtig ist und keinen kalt lässt: Den typischen Bärlauch-Geschmack liebt man oder hasst man, dazwischen gibt es nicht viel. Das ist schon im richtigen Leben so – und auch im Roman: „Gibt‘s eigentlich schon Bärlauchschokolade und Bärlaucheis“, stöhnt eine Protagonistin in „Das giftige Glück“. Bei Gudrun Lerchbaum gibt es in Wien in der Bärlauch-Saison Tote – und dies nicht etwa, weil jemand die krautige Pflanze absichtsvoll oder unabsichtlich mit giftigen Maiglöckchen oder Herbstzeitlosen verwechselt hat. Es geht ein gefährlicher Pilz um, der den Bärlauch befällt, und zu zwei erstaunlichen Ergebnissen führt: Der Konsum der befallenen Pflanze führt zum ultimativen Kick und wirkt unglaublich euphorisierend – das große Glück gibt es allerdings nur einmal und kurz, denn das kranke Kraut ist auch absolut tödlich. Nachdem klar wird, wie das neuartige „Viennese Weed“ wirkt, finden sich verschiedenste Anwendungsfelder mit entsprechenden gesellschaftlichen Verwerfungen: Vom einsamen Suizid aus Verzweiflung oder wegen fortschreitender Krankheit über inszenierte Suizid-Partys bis hin zur Beseitigung von Feindinnen und Konkurrenten. Auch Erpresser und Betrügerinnen erkennen und nutzen ihre Chancen.

Mord, Suizid und Chaos

Einen Suizid erwägt auch die schwer kranke Protagonistin Olga, um der weiter zunehmenden körperlichen Einschränkung im weiteren Verlauf ihrer Multiplen Sklerose zuvorzukommen. Selbst kann sie sich das Kraut mangels ausreichender Mobilität nicht besorgen. Also bittet sie ihre Freundin und Betreuerin Christiane Maria, genannt Kiki, um Hilfe, die nach einem Gefängnisaufenthalt versucht, wieder ihr Leben in den Griff zu bekommen. Für Kiki ist die Vorstellung, Olga zu verlieren, zwar ein Alptraum, aber sie ist bereit, dem Wunsch der Freundin nachzukommen. Wie viele andere macht sie sich auf die Suche nach dem tödlichen Kraut, auch wenn das Sammeln längst verboten ist. Im Wald trifft sie auf die 13jährige Jasse, deren Mutter die Familie verlassen hat, und die traurig, wütend und verzweifelt ebenfalls mit dem Gedanken spielt, ihr Leben zu beenden. Beide fliehen gemeinsam, als Parkaufseher auftauchen, und zwischen den beiden so unterschiedlichen unglücklichen Frauen entsteht eine scheue Nähe. Jasse setzt den Bärlauch, den sie gesammelt hat, tatsächlich ein – allerdings nicht an sich selbst. Kiki wird des Mordes verdächtigt, Jasse kämpft mit ihrem Gewissen. Aber der unnatürliche Todesfall ist in diesem Krimi eigentlich nur ein Nebenschauplatz. Unterdessen breitet sich der Pilzbefall am Bärlauch immer weiter aus, dominiert die Medienberichterstattung, führt zu immer chaotischeren Zuständen, bis letztlich zwar die Bärlauchseuche aufgeklärt wird, aber einige andere Fragen offen bleiben.

Viele Fragen zum Tod

„Das giftige Glück“, das im Vorjahr zu einem der zehn besten Bücher des Sommers gekürt wurde, ist genau zu dem Zeitpunkt erschienen, zu dem der assistierte Suizid in Österreich unter bestimmten Bedingungen legal wurde. Ein Jahr vor Inkrafttreten der neuen Regelung hatte der Verfassungsgerichthof das allgemeine Verbot aufgehoben und dem Gesetzgeber ein Jahr Übergangsfrist für eine Neuregelung gewährt. Dieses Timing war bei der ursprünglichen Stoffentwicklung so wohl nicht plan- und vorhersehbar. Aber es ist eines der vielen hochaktuellen Themen, die Gudrun Lerchbaum auf sehr eigenwillige Weise in den Roman packt. Gibt es so etwas wie ein selbstbestimmtes Sterben, wenn die Perspektive einer fortschreitenden Erkrankung den Lebenswillen beeinträchtigt? Wie gehen wir damit um, wenn geliebte Menschen sich zum Suizid entschließen und auch noch um Hilfe bitten? Wie weit müssen Loyalität und Freundschaft reichen, wenn es um Leben und Tod geht? Die Autorin geht erfreulich sensibel damit um, vermeidet plumpes Schwarz-Weiß-Zeichnen, das die Debatte um das Thema assistierten Suizid so oft dominiert. Etwa wenn Olga meint: „Erstaunlicherweise ist das Leben umso kostbarer, je näher man dem Ende kommt. Das ist mir hier unter den anderen Totgeweihten erst so richtig aufgegangen.“ Oder wenn Jasse sehr erwachsen raisoniert: „Es geht nicht um den Tod, meine ich. Es geht darum, das Leben auszuhalten.“

Gute Medizinrecherche

Dass wir uns angesichts der Verschwörungserzählungen (Stichwort „Bärlauch-Lüge“), die sich rund um den giftigen Bärlauch verbreiten, ein heftiges Déjà-vue haben, ist ein weiteres Aktualitätsmoment, das augenzwinkernd daherkommt. Ebenso hat es einen gewissen und zweifellos beabsichtigten Wiedererkennungs-Wert hat der Rechtspolitiker, der das Gift kommerzialisieren und in Länder, in denen es die Todesstrafe gibt, exportieren will; oder wenn Wissenschaftler vor laufender Kamera die neuesten Erkenntnisse zum gefährlichen Pilz erklären. Vor dem Hintergrund solider Recherchen werden Leserinnen und Leser nebenbei auch in die Welt der stimulierenden und psychodelischen Substanzen eingeführt. Apropos solide Recherchen: Das gilt auch beispielsweise für die Schilderung der MS-Erkrankung Olgas, spastische Krämpfe und andere Symptome inclusive.

Die Geschichte umfasst einen kompakten Zeitraum von etwa drei Wochen, die Kapitel sind zur Orientierung mit „Tag 1“ bis „Tag 20“ betitelt. Die eigenwilligen Protagonistinnen sind gelungen gezeichnet, ihre Geschichten geschickt miteinander verwoben, und jede findet ihren eigenen Erzählton. Nicht nur der Perspektivenwechsel schafft viel Lebendigkeit, auch Gudrun Lerchbaums Spiel mit verschiedenen Textsorten. Da lesen wir einen Blog über Pilze, Facebook-Postings und den O-Ton des Nachrichtenmoderators. Das alles ist kurzweilig – und die vielen grotesken Einfälle, die die Autorin mit uns teilt, sowieso.

Sprachlich unprätentiös, je nach Erzählfigur flapsig bis derb, der Plot gekonnt konstruiert und spannend erzählt – eine klare Leseempfehlung für ein abenteuerliches Gedankenspiel.

Gudrun Lerchbaum: Das giftige Glück. Haymon 2022, ISBN 978-3-7099-8149-8

 

Gudrun Lerchbaum (Bild: Martin Jordan)

Gudrun Lerchbaum, aufgewachsen in Wien, Paris und Düsseldorf, arbeitet seit Abschluss ihres Architekturstudiums an der TU Wien als Architektin und Künstlerin. Nach zahlreichen Texten und Kurzgeschichten erschien 2015 ihr erster Roman „Die Venezianerin und der Baumeister“. 2016 und 2018 folgten „Lügenland“ und „Wo Rauch ist“. https://gudrunlerchbaum.com/

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