Gerichtsmediziner Walter Rabl: „Der Giftmord ist eine echte Rarität“

Porträtbild des Gerichtsmediziners Prof. Rabl
A. Univ.-Prof. Dr. Walter Rabl, MME (Bern) ist seit 1983 Gerichtsmediziner.
Er ist stellvertretender Direktor des Instituts für Gerichtliche Medizin an der Medizinischen Universität Innsbruck. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Morphologie, Toxikologie, klinische Gerichtsmedizin und die Sachverständigentätigkeit. Er ist Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Gerichtliche Medizin (ÖGGM).

Prof. Walter Rabl, seit 1983 Gerichtsmediziner, ist als Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Gerichtliche Medizin das „Gesicht“ des medizinischen Faches in Österreich. Dass der „Tatort“ zu seinem sonntäglichen Abendprogramm gehört, worin sich Pathologie und Gerichtsmedizin unterscheiden und wie der Arbeitsalltag von Gerichtsmedizinerinnen und Gerichtsmedizinern im wirklichen Leben aussieht, erzählt er im Interview mit Medical Murder Mystery.

Medical Murder Mystery: Sie haben mehrfach öffentlich Bedenken geäußert, dass in Österreich zunehmend Tötungsdelikte unentdeckt bleiben könnten. Woher kommt diese Sorge?

Prof. Rabl: Das hat einen sehr realen Hintergrund. Die Obduktionsfrequenz in Österreich sinkt seit Jahren dramatisch. Vor 35 Jahren lagen wir bei einer Obduktionshäufigkeit von 30 bis 35 Prozent aller Verstorbenen. Nachdem die Obduktion der Goldstandard für die Feststellung der Todesursache ist, hat uns das nicht nur sehr präzise Daten für die Todesursachen-Statistik geliefert,  sondern natürlich auch wesentlich zur Feststellung von fremdverschuldeten Todesfällen beigetragen. Heute wird nur mehr jede bzw. jeder zehnte Verstorbene obduziert. Wenn man berücksichtigt, dass bei der Totenbeschau die Fehlerquote bei rund 50 Prozent liegt, ist also klar, dass viele Todesursachen falsch beurteilt werden. Das ist bei Fremdverschulden, das übersehen wird, nicht notwendigerweise immer Mord und Totschlag, es kann sich auch um unterlassene Hilfeleistung, Arbeitsunfälle oder eine ärztliche Fehlhandlung handeln.

MMM: Wann sollte es idealerweise zu einer Obduktion kommen?

Prof. Rabl: Der Idealfall wäre, dass immer dann obduziert wird, wenn es Unklarheiten gibt. Es gibt zwei Möglichkeiten,  wie es zur Obduktion kommt. Wenn von vornherein ein Verdacht auf Fremdeinwirkung besteht, dann läuft das über die Polizei zur Staatsanwaltschaft, die dann die Untersuchungen anordnet. Die zweite Schiene, genauso wichtig, ist die sanitätsbehördliche Untersuchung. In diesen Fälle können die Beschauärztin oder der Beschauarzt von außen keine Todesursache feststellen. Dann kann dann auch eine sogenannte sanitätsbehördliche Obduktion beauftragt werden. Wenn obduziert wird, dann haben wir eine wesentlich höhere Trefferquote, was die Todesursache betrifft.

MMM: Wenn so klar ist, dass mit der reinen Leichenbeschau das Risiko von Fehlbefunden groß ist, warum wird dann immer weniger obduziert?

Prof. Rabl: Es gibt zu wenige Gerichtsmedizinerinnen und Gerichtsmediziner, das ist das Hauptproblem. Wir haben für neun Bundesländer vier Institute, in Wien, Graz, Innsbruck und Salzburg, wobei Innsbruck mit Abstand das größte ist. Es gibt aber auch andere Ursachen für die niedrige Obduktionsquote, das ist ein internationales Problem. Bei uns gibt es zumindest eine gute gesetzliche Grundlage, trotzdem wird immer weniger obduziert. Aber Deutschland hat überhaupt nur eine Obduktionsquote von ein bis zwei Prozent, ebenso die Schweiz.

MMM: Schauen und lesen Sie Krimis?

Prof. Rabl: Ja, das mache ich gerne. Der Tatort am Sonntag ist ein Pflichtprogramm für mich, auch die diversen Städtekrimis schaue ich mir zum Beispiel ganz gerne an. Ich lese auch viele Krimis und SciFi-Romane, ohne dass ich spezielle Favoriten hätte. Es gibt schon Krimis, bei denen man merkt, dass es eine gute forensische Beratung gab. Ich werde auch immer wieder von Krimiautorinnen und -autoren gefragt, ob ich die Plausibilität der gerichtsmedizinischen Szenen überprüfen kann, das mache ich gerne und gebe Tipps.

MMM: Es gibt aber wohl auch Krimiszenen, die weit abweichen von der gerichtsmedizinischen Realität. Was fällt Ihnen da besonders auf?

Prof. Rabl: Ein unausrottbarer Klassiker ist die Wasserleiche: Die wird geborgen, der Arzt stellt fest, dass Wasser in der Lunge ist, also muss die Person ertrunken sein.  In Wirklichkeit ist die Lunge Ertrunkener trocken und überbläht. Oder ein anderer Fehler-Klassiker betrifft die Todeszeit. Die Gerichtsmedizinerin am Tatort sagt schon gern einmal „Der Tod ist zwischen 16 und 16.30 eingetreten, näheres nach der Obduktion“. Das ist Unsinn, und am nächsten Tag, wenn die Leiche aus dem Kühlfach kommt, kann man diesbezüglich schon gar nichts mehr feststellen. Todeszeitpunkt-Schätzungen werden in der Realität sehr selten benötigt. Üblicherweise ermittelt das die Polizei, mit sehr guten Methoden: Wann wurde jemand zuletzt gesehen, war zuletzt online oder im Handynetz? Diese Ermittlungen sind üblicherweise präziser als unsere Schätzung. Oft ist der Todeszeitpunkt auch gar nicht so relevant. Wenn wir eine Schätzung vornehmen, sind Anhaltspunkte die Temperatur, Totenflecken, Totenstarre oder Pupillenreaktionen, die es auch noch ein paar Stunden nach Todeseintritt gibt. Es gibt auch biochemische Methoden. Je später postmortal der Körper ist, desto ungenauer werden die Methoden.

MMM: Eine häufige Verwirrung gibt es um die Unterschiede zwischen Pathologie und Gerichtsmedizin – oder Rechtsmedizin, wie das Sonderfach in Deutschland heißt. Können Sie das bitte aufklären, was der Pathologe macht und was die Gerichtsmedizinerin?

Prof. Rabl: Das wird in Krimis tatsächlich häufig verwechselt. Ein Ursprung könnte in Romanen oder Serien aus den USA zu finden sein. Denn dort ist das, was bei uns der Gerichtsmedizin entspricht, die „forensic pathology“, also forensische Pathologie. Bei uns sind Pathologie und Gerichtsmedizin unterschiedliche Sonderfächer mit Facharztausbildungen von jeweils sechs Jahren. Die Pathologie ist die Lehre von den Krankheiten. Wenn jemand krank ist, und dann im Krankenhaus verstirbt, ist das ein Fall für die Pathologie. Die Gerichtsmedizin hat ganz andere Aufgaben. Wir sind beispielsweise für den plötzlichen Tod unklarer Ursache, für Traumen, für ärztliche Fehlbehandlungen, für Vergiftungen, für fremdverschuldete Todesfälle zuständig.

MMM: Eine der ersten Krimiszenen ist sehr oft, dass der Gerichtsmediziner oder die Gerichtsmedizinerin am Tatort ist, und dort nicht nur die Leiche untersucht, sondern auch noch das gesamte Umfeld, …

Prof. Rabl: … und manchmal womöglich vorher den Tatort mit gezogener Waffe betritt, und noch ein paar Verdächtige verhaftet, bevor er Tatort und Leiche untersucht. Aber diese eierlegende Wollmilchsau gibt es in der Realität natürlich nicht. Wir haben eine sehr klare Arbeitsteilung zwischen Ermittlerinnen und Ermittlern, Kriminaltechnik und Gerichtsmedizin. Gerichtsmediziner sind eher selten am Tatort, das würden wir kapazitätsmäßig gar nicht schaffen.

MMM: Wann kommt tatsächlich eine Gerichtsmedizinerin oder ein Gerichtsmediziner an den Tatort?

Prof. Rabl: Jedenfalls nur dann, wenn es die Staatsanwaltschaft beauftragt. Wir können das nicht einfach selbst entscheiden. In der Regel kommt zunächst einmal die Polizei, die stellt fest, dass es sich um ein Delikt handeln könnte. Dann kommen die Spurensicherer, die entsprechend ausgebildet sind. Sollten hier eigenartige Veränderungen oder unklare Besonderheiten festgestellt werden, kann die Spurensicherung im Einzelfall in Absprache mit der Staatsanwaltschaft weitere Spezialistinnen und Spezialisten  hinzuziehen: Bei einem Unfall zum Beispiel die Verkehrstechnik oder an einem Tatort die Gerichtsmedizin. In aller Regel machen aber die Spurensicherer alles, was am Tatort nötig ist. Wenn wir obduzieren, können wir uns in der Regel vorher schon anhand der Tatortbilder einen ersten Eindruck verschaffen. Solange die Obduktion nicht abgeschlossen ist, bleibt der Tatort auch polizeilich versiegelt, sodass wir oder die Ermittler im Zweifel auch speziellen Fragestellungen vor Ort nochmal nachgehen können. Im typischen Fernsehkrimi ist der Gerichtsmediziner oder die Gerichtsmedizinerin etwa 30 Prozent ihrer Arbeitszeit am Tatort und 70 Prozent im Seziersaal. Tatsächlich haben wir ja viel mehr mit Lebenden zu tun, das ist weitgehend unbekannt.

MMM: Worum geht es bei der Arbeit mit den Lebenden?

Prof. Rabl: Da geht es zum Beispiel um Körperverletzungen unterschiedlichster Art, Verdacht auf Kindesmisshandlung oder auch um Sexualdelikte. Da müssen wir oft auch bei Gericht aussagen. Etwa 300 Mal im Jahr machen wir an unserem Institut Feststellungen der Vaterschaft. Dazu kommt eine große Zahl an toxikologischen Untersuchungen. Zum Vergleich, damit man die Dimensionen sieht: Wir haben in Innsbruck pro Jahr etwa 500 bis 550 Obduktionen und etwa 4.500 toxikologische Fälle. Dazu gehören Alkohol- und Drogenuntersuchungen aus dem Straßenverkehr, Proben aus Intensivstationen oder Substanzen, die uns die Polizei schickt. Einer unserer Schwerpunkte in Innsbruck ist die DNA-Analyse, da untersuchen wir über 10.000 Spuren pro Jahr, für ganz Österreich. Das ist bei sehr vielen Kriminaldelikten relevant, mittels Datenbank-Abgleichen gibt es sehr hohe Aufklärungsquoten. Bei Delikten mit einem großen Wiederholungsrisiko, wie Einbrüchen, Sexualdelikten etc., werden bei der erkennungsdienstlichen Behandlung auch Abstriche der Mundschleimhaut von Tatverdächtigen für die DNA-Datenbank genommen. Zudem sind wir auch international vernetzt, so gibt es viele Treffermeldungen.

MMM: Eine typische Krimisituation ist die Identifikation der Leiche. Der Gerichtsmediziner schlägt das Tuch zurück und eine Angehörige identifiziert das Opfer. Spielt sich das bei Ihnen so ab?

Prof. Rabl: Das geht so gar nicht, eine optische Identifizierung wäre in unserem Fach ein Kunstfehler. Wir kennen das von Massenkatastrophen, ich erinnere mich zum Beispiel an den Lawinenabgang von Galtür. Da waren gut gekühlte Verstorbene ohne erkennbare Verletzungen, und trotzdem haben sich Angehörige in vielen Fällen geirrt. Die Identifizierung durch Ansehen der Leiche ist laut Interpol-Standards nicht zulässig. Die international anerkannten Methoden sind der Fingerabdruck, der Vergleich des Zahnstatus und die DNA-Analyse. Die Angehörigen können natürlich die Leiche sehen, zum Beispiel, um Abschied zu nehmen. Das passiert nach der Obduktion, da kümmert sich dann der Bestatter drum.

MMM: Kommt die zuständigen Ermittlerinnen und Ermittler eigentlich zur Obduktion, oder bekommt die Polizei nur den Bericht?

Prof. Rabl: Bei unseren Obduktionen im Auftrag der Staatsanwaltschaft müssen die zuständigen Ermittler und Spurensicherer dabei sein. Die machen auch oft die Fotodokumentation der Obduktion. Es kommen auch Polizeischülerinnen und Polizeischüler zu Obduktionen, um das zu lernen. Sie alle müssen sich übrigens nicht, wie man es in Krimis oft sieht, irgendein stark riechendes Mittel unter die Nase reiben, um den Gestank zu ertragen. Eine Leiche kann nie so übel riechen wie ein lebender Mensch. 

MMM: Wie häufig haben Sie es tatsächlich mit Mord und Totschlag zu tun?

Prof. Rabl: In ganz Tirol und Vorarlberg sehen wir etwa zehn Tötungsdelikte  im Jahr. Todesfälle mit einem Verdacht auf Fremdverschulden gibt es natürlich viel mehr, wir haben etwa zwei Obduktionen pro Arbeitstag.

MMM: Im Krimi sind die häufigsten Todesursachen wohl Schusswaffen, Messer, Erwürgen oder Gift. Wie ist es in der Realität?

Prof. Rabl: Gift kommt äußerst selten bei Tötungsdelikten vor, der Giftmord ist eine echte Rarität. Am häufigsten sehen wir Messer als Tatwaffen, sehr oft einfache Küchenmesser, gefolgt von Erwürgen bzw. Erdrosseln. Schusswaffen sind eher selten, die kommen vorwiegend bei Suiziden vor.

MMM: Würde es Sie reizen, selbst einmal einen Krimi zu schreiben, wie manche Ihrer Kollegen?

Prof. Rabl: Nein, das ist nicht meine Welt, ich konsumiere Krimis lieber. Generell finde ich es nicht so gut, mit zu vielen Informationen über unsere Fälle in die Öffentlichkeit zu gehen. Damit verbreiten wir nicht nur Täterwissen, das ist unter Umständen auch Täterschulung und lädt zur Nachahmung ein. Da muss man sehr sensibel damit umgehen.

 Interview: Birgit Kofler

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