Patrick Illinger: „Mit dem fiktionalen Schreiben habe ich eine ganz neue Welt betreten“

Porträtfoto Patrick Illinger

Er war Forscher und Wissenschaftsjournalist – und beide Erfahrungen fließen in die Wissenschaftsthriller von Patrick Illinger ein, auch wenn er mit dem fiktionalen Schreiben eine „ganz neue Welt betreten“ hat, wie der Autor betont. Was es reizvoll macht, statt über Fakten zu berichten auch einmal Fiktion schaffen zu können, wie viel real existierende Wissenschaft in seinen Romanen steckt, wie Thriller auch auf potenziell bedenkliche Entwicklungen aufmerksam machen können und was für ihn einen guten Wissenschaftsthriller ausmacht, erzählt Patrick Illinger im Gespräch mit Medical Murder Mystery.

Zur Person: Patrick Illinger, geboren 1965, forschte am Europäischen Forschungszentrum CERN über Antimaterie, bevor er sich dem Journalismus und dem Schreiben widmete. 1997 wurde Patrick Illinger leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung, wo er zunächst die Online-Redaktion aufbaute. Zwischen 2002 und 2020 leitete er das Ressort „Wissen. Zudem leitete er von 2004 bis 2008 die Redaktion des Wissens-Magazins SZ Wissen der Süddeutschen Zeitung. Ab September 2020 koordinierte er die Wochenendausgabe der SZ, seine nächste Tätigkeit für die Zeitung führt ihn auf einen Korrespondentenposten in Spanien. 2020 erschien sein erster Thriller „Quantum – Tödliche Materie“, der über der Welt der Elementarteilchen erzählt, sein aktueller Thriller „Cortex“ beschäftigt sich unter anderem mit künstlich gezüchteter Gehirnmasse.

Medical Murder Mystery: Sie haben im Zusammenhang mit Ihrem Thriller „Cortex“ berichtet, eine Recherche als Journalist in einem Max-Planck-Institut habe Sie zu diesem Thema inspiriert, wo Sie menschliche Hirnorganoide gesehen haben. Was macht es gegenüber dem Wissenschaftsjournalismus so spannend, solche Themen in Thrillern zu bearbeiten?

Patrick Illinger:  Ich habe viele Jahre journalistisch über wissenschaftliche Themen berichtet und war dabei den Fakten und der Realität verpflichtet. Da sind in mir irgendwann der Wunsch und das Bedürfnis gewachsen, aus solchen Themen auch etwas Fiktives zu machen, meiner Phantasie freien Lauf zu lassen. Was im Journalismus ein absolutes Tabu ist, nämlich Erfundenes zu publizieren, ist in der Belletristik möglich – und so ging ich ans Romanschreiben.

MMM: Aber Sie bleiben doch auch in der Fiktion sehr nahe an den Fakten, und spitzen sie zu, ist mein Eindruck.

Patrick Illinger: Das Genre des Wissenschaftsthrillers unterscheidet sich klar von der Science Fiction. Letztere spielt entweder in der Zukunft oder in einer anderen, erdachten Welt. Im Wissenschaftsthriller geht es um das Hier und Jetzt, er spielt in der realen Welt und verwebt viele echte wissenschaftliche Fakten. Und dann dreht man bildlich gesprochen den Lautstärkeregler auf. Ein Klassiker des Genres ist Jurassic Park von Michael Crichton, in dem viele Beschreibungen stimmen – etwa, dass man in Bernstein Insekten und DNA finden kann. Aber dann kommt der Punkt, wo die Dinosaurier in Hühnereiern ausgebrütet werden. Das klappt in der Realität natürlich – noch – nicht. In Büchern von Frank Schätzing oder Marc Elsberg ist das ähnlich, sie starten sehr nahe an der Realität und gehen dann über sie hinaus. Allgemeiner gesagt stimmen oft an die 90 Prozent des Erzählten, und die letzten zehn Prozent sind wissenschaftliche Fiktion. Das passiert möglicherweise auch mit der durchaus lauteren Absicht, darauf aufmerksam zu machen, was zurzeit in der Wissenschaft möglich wird und was daraus werden könnte, wenn man nicht aufpasst.

MMM: Beim Lesen von „Cortex“ hatte ich den Eindruck, dass das Buch natürlich Unterhaltung ist, aber es  durchaus auch eine Botschaft hat, die nachdenklich und darauf aufmerksam macht, dass bestimmte Methoden in gefährliche Gefilde führen können.

Patrick Illinger: Das war beabsichtigt. Im Fall von „Cortex“ geht es nicht um Gentechnik, wie manchmal gesagt wird, sondern um künstliche Organe und vor allem um Organoide, die aus menschlichen Zellen gezüchtet werden. Das ist aktuelle Forschung, über die noch wenige Menschen Bescheid wissen. Kürzlich besprachen in einer Radiosendung Wissenschaftsjournalisten unter anderem mein Buch und hielten es für unrealistisch – sie waren über diese Entwicklungen wohl selbst noch nicht auf dem Laufenden. Hirnorganoide sind aus neuronalen menschlichen Stammzellen gezüchtete Miniaturgehirne, die in vielen Laboren dieser Welt bereits hergestellt und auch experimentell in Tiere verpflanzt werden. Man sieht sich dabei an, welche Eigenschaften Tiere entwickeln, denen menschliche Gehirnmasse implantiert wurde. Vor diesem Hintergrund liegt es auf der Hand, welche ethischen Grenzen überschritten werden könnten – und die finden sich in meinem Roman.

WWW: Ist der Wissenschaftsthriller so gesehen auch ein wenig Wissenschaftsjournalismus mit anderen Mitteln, wenn man zum Beispiel auch warnende Botschaften mittransportiert?

Patrick Illinger: Mit einer solchen Ansage könnte man Leserinnen und Leser abschrecken. Ein Thriller wie Cortex ist kein Sachbuch. Mir ist es sehr wichtig, dass man den Roman einfach flüssig lesen kann, ohne wissenschaftliche Vorbildung. Als Autor eines solchen Thrillers stellt sich immer die Frage, wie flechte ich die wissenschaftlichen Fakten ein, um die es im Hintergrund geht, ohne dass es wie eine Vorlesung oder ein Seminar klingt, und ohne dass ich schulmeisterlich wirke. In meinem Fall führe ich die Figur eine Journalistin ein, die üblicherweise gar nicht in der Wissenschaft recherchiert, und durch verschiedene Umstände in dieses Thema hineingerät. Sie stellt einem Wissenschaftler die Fragen, die jeder normale Mensch stellen würde. So kann man der Thematik gut folgen, aber letztlich dominiert der Thrilleraspekt: Spannung, Plots, Wendungen, Action Man kann „Cortex“ sehr gut genießen, ohne fürchten zu müssen, irgendwelchen akademischen Komplexitäten ausgesetzt zu sein.

MMM: Das unterscheidet das Buch wohltuend von anderen im Medizin- oder Wissenschaftsthriller-Genre, die erst mal etwas schwerfällig lange Einführungen zu Krankheiten oder Therapien machen als wären wir im Fachjournal. Sie haben bereits beschrieben, dass Sie nahe an den Fakten bleiben, und dann „aufdrehen“. Offensichtlich beeinflusst also schon das Know-how des Wissenschaftsjournalisten auch das fiktionale Schreiben?

Patrick Illinger: Ich hatte wissenschaftsjournalistischen Einblick und mit den Organoiden ein Thema gefunden, das noch nicht als Roman verarbeitet war. Aber der Entstehungsprozess eines Thrillers war dann doch etwas ganz Neues für mich.

MMM: Es gibt nicht so wenige Journalistinnen und Journalisten, die auch Krimis oder Thriller schreiben oder ganz in die Fiktion gehen. Herkömmlicherweise denkt man, dass die journalistische Erfahrung die Arbeit am Roman beeinflusst. Aber wie ist es eigentlich umgekehrt, beeinflusst das Romanschreiben auch die journalistische Arbeit?

Patrick Illinger: Durch jede Schreiberfahrung wird das eigene Schreiben flüssiger, vielseitiger. Auch Dramaturgie, wie man sie im Roman braucht, schadet einem journalistischen Text nicht – zum Beispiel wenn man nach dem ersten Absatz gern weiterliest, weil ein kleiner Cliffhanger eingebaut ist. Ich denke, vom fiktiven Schreiben kann man viel über gutes Schreiben lernen und so gesehen hat mich das auch weitergebracht. Fiktives Schreiben ist eine eigene Welt, schon wegen der Komplexität der Handlung. Schon deshalb, weil man für die Romanhandlung alle Stränge verzahnen und verweben muss. Bei einem Thriller dieser Art ist das Plot-Design sehr aufwändig.

MMM: Sie haben Michael Crichton, Frank Schätzing und Marc Elsberg genannt als Beispiele für gute Wissenschaftsthriller. Welche Zutaten muss denn für Sie ein guter Medizin- oder Wissenschaftsthriller haben?

Patrick Illinger: Was die Zutaten eines guten Wissenschaftsthrillers betrifft, so unterscheidet sich das nicht so sehr von einem Polit-, Psycho- oder sonstigem Thriller:  Man muss die Fakten richtig hinbekommen, und dann kommt es auf die Thrilleraspekte an. Aus meiner Sicht gibt es da einige wesentliche Punkte: Die handelnden Figuren müssen so zusammengebracht werden, dass sie nicht mehr rauskönnen und aufeinander angewiesen sind.  Wichtig ist auch eine Uhr, ein äußerer Zeitdruck, ein Wettlauf mit der Zeit. Es braucht auch die berühmte Reise des Helden oder der Heldin, mit vielen Hindernissen auf dem Weg. Dass es gut ausgeht, gehört auch dazu. Ich kenne keinen guten Thriller, in dem am Ende alle tot sind.

Interview: Birgit Kofler

 

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