Kriminalpsychologe Thomas Müller: „Wir lösen keine Verbrechen, sondern bieten Hilfsmittel für die Strafrechtspflege“

Portät Kriminalpsychologe Thomas Müller
Foto: Martin Vukovits

Prof. Thomas Müller gehört zu den führenden europäischen Kriminalpsychologen. Seine Expertise ist über die Grenzen Österreichs hinaus gefragt – von der Strafrechtspflege, aber auch von Film- und TV-Produktionen. Im Interview mit Medical Murder Mystery erklärt der Experte, wie sich die Arbeit von Kriminalpsychologen und forensischen Psychiaterinnen unterscheidet, welche Irrtümer es über „Profiler“ gibt, und unter welchen Umständen Medizinerinnen oder Pflegepersonen von Helfenden zu Tötenden werden können.

Zur Person: Prof. Mag. Dr. Thomas Müller stammt aus Tirol. In Innsbruck war er zunächst als Polizist tätig und studierte nebenbei Psychologie. Er promovierte zum Dr.rer.nat. in Kriminalpsychologie und Forensische Psychiatrie. Ab dem Jahr 1993 baute er im Bundesministerium für Inneres in Wien den Kriminalpsychologischen Dienst auf, den er bis 2004 leitete. Er ist gerichtlich beeideter und zertifizierter Sachverständiger für Kriminalpsychologie und hat zahlreiche Spezialausbildungen in den Bereichen Bearbeitung von Tötungsdelikten, Sexualverbrechen, Bedrohungsanalysen, Workplace Violence, Einvernahmetechnik oder Geiselnahmesituation in den USA (FBI) und Kanada absolviert. Seit 2005 ist er Mitarbeiter am Institut für Wissenschaft und Forschung der österreichischen Sicherheitsakademie des Innenministeriums, hat internationale Lehraufträge und arbeitet bei internationalen Kooperationsprogrammen mit.
Bücher: „Bestie Mensch“, 2004; „Gierige Bestie“, 2006, beide im Ecowin Verlag.

Medical Murder Mystery: Als Kriminalpsychologe haben Sie im „richtigen“ Leben mit dem zu tun, was andere Menschen nur aus dem Krimi kennen – Serienkiller, Mörderinnen, psychopathische Kriminelle. Interessieren Sie da noch Krimis?

Thomas Müller: Sie werden verstehen, dass ich nach einem intensiven Arbeitstag zu Hause andere Dinge mache als mir einen Fernsehkrimi anzuschauen. Das ist keine qualitative Bewertung von Tatort, CSI Miami und ähnlichen Produktionen, sondern schlicht ein Gefallen, den ich mir selbst tue, um mein Unterbewusstes davon frei zu halten. Eine Ausnahme gibt es beim Krimikonsum – einer meiner Lieblingsautoren ist Georges Simenon, der Erfinder von Maigret. Da begeistert mich diese feine psychologische Feder, mit der er menschliches Verhalten so beschreibt, als sei es geradezu gemalt. Die Maigrets ebenso wie die Non-Maigrets geben ein phantastisches Bild der Gesellschaft wider.

MMM: Wir interessieren uns in diesem Blog vor allem für fiktive und reale Verbrechen, die rund um Medizin und Gesundheitswesen stattfinden. Sind Ihnen in Ihrer Tätigkeit schon viele Fälle untergekommen, in denen Täterinnen oder Täter in einem Gesundheitsberuf tätig waren?

Thomas Müller: Lassen Sie uns zwischen verschiedenen Konstellationen unterscheiden. Da gibt es einerseits vorsätzliche Tötungsdelikte im Gesundheitsbereich, die ich als Kriminalpsychologe durchaus schon gesehen habe. Und dann sehen wir Fälle, in denen Personen im Medizin- und Pflegebereich, aufgrund oft extremer Belastungen, sich gewissermaßen „vergessen“ und ein völlig unbotmäßiges Verhalten an den Tag legen, weil sie mit den Gesamtbedingungen nicht mehr umgehen können. Das alles ist schon unter dem Blickwinkel ein spannendes Feld, dass es hier eine berufsbedingte Verantwortung mit besonders hohen moralischen und ethischen Standards gibt. Man muss annehmen können, dass ein Bankkassier sich nicht einmal zehn Cent aus der Portokasse nimmt, weil er eben Kassier in einer Bank ist. Oder dass ein Priester, der dazu da ist, Schwache zu schützen, sich nicht an Schutzbefohlenen vergeht. Und Menschen, die in einem Gesundheitsberuf tätig sind, vertraut man das höchste Gut an, nämlich die Gesundheit und unter Umständen das Leben, und wenn hier etwas geschieht, bekommt es eine besondere Bedeutung. Wir sprechen von einem berufsbezogenen, besonderen Vorbild und der dafür notwendigen Verantwortung.

MMM: Welche Umständen müssen denn zusammentreffen, dass Gewalttaten der einen oder anderen von Ihnen beschriebenen Kategorie vorfallen können?

Thomas Müller: Wenn es im Gesundheitsbereich zu Gewaltdelikten kommt, schwingt sehr oft seitens der Täterinnen und Täter oder seitens der Verteidigung das Konzept des Mitleids mit. Früher oder später kommt hier dann auch das Konzept der aktiven Sterbehilfe ins Spiel, die bekanntlich kontroversiell diskutiert wird und in Europa unterschiedlich geregelt ist. Das ist eine gesellschaftlich und damit auch politische Diskussion und keine kriminalpsychologische. Als Kriminalpsychologe ist für mich  die Frage relevant, was ist Ursache und was ist Wirkung. Ich habe Interviews mit Personen aus Gesundheitsberufen geführt, die im beruflichen Zusammenhang getötet haben. Die wissen oft selbst nicht mehr genau, wann sie die Grenze überschritten haben. Wenn man im Interview mit ihnen die Fälle im Detail durchgeht, kommen sie dann aber doch oft zur Einsicht, dass es ab einem bestimmten Punkt um Machtausübung ging. Ich erinnere mich an ein Interview mit einer Täterin in Berlin, die in der Krankenpflege tätig war, vorsätzliche Tötungsdelikte begangen hat und mir gesagt hat: „Irgendwann war der Tod mein Verbündeter und nicht mehr mein Gegner.“

MMM: Ist die psychologische Beurteilung eines solchen Delikts bei einer Person in einem Gesundheitsberuf anders als bei anderen Täterinnen oder Tätern?

Thomas Müller: Bei sonstigen Tötungsdelikten – seien es persönliche Delikte, Bereicherungsdelikte oder sexuelle Tötungsdelikte – haben wir es oft mit der Fragestellung eines verletzten Egos zu tun. Die Täter sind gekränkt, beleidigt, und führen eine Handlung aus, weil sie mangels entsprechender Fähigkeiten die Kommunikation nicht mehr einsetzen können. Wenn die Kommunikation einbricht, entsteht Angst und aus der Angst entsteht oft Aggression. Diese Kette ist in vielen Fällen einigermaßen nachvollziehbar. Im Gesundheitsbereich erwartet die ganze Welt, dass ein Mensch, der einen Gesundheitsberuf ergreift, helfen möchte. Aber Gesamtumstände können dazu führen, dass ich in einem Pflegeberuf gar nicht mehr helfen kann. Dann stellt sich die Frage, wie man damit umgeht, und da kann es zu extremen Reaktionen kommen. Bei multiplen Tötungsdelikten kann man hier von einem Fall zum nächsten oft eine Steigerung sehen und erkennen, dass der Täter irgendwann das Recht und die Macht, über Leben und Tod zu entscheiden, für sich in Anspruch nehmen.

MMM: Sie haben das Beispiel einer Pflegeperson gebracht, die zur Täterin wurde. Viele Menschen in Österreich werden sich noch an den „Pflegeskandal“ von Lainz erinnern, im Rahmen dessen Pflegerinnen Patientinnen und Patienten  quälten und töteten. Kürzlich gab es einen Prozess gegen Pflegerinnen und Pfleger, die in einer niederösterreichischen Einrichtung Bewohnerinnen und Bewohner gequält haben. Sie haben auch solche Fälle untersucht?

Thomas Müller: Ja, ich erinnere mich an den Fall einer Pflegeperson, die wegen vorsätzlicher Tötung von fünf Patienten verurteilt war. Die Frau hatte den persönlichen Hintergrund, dass ihr Vater in einem Krankenhaus verstorben ist, und zwar wegen Überfüllung der Station in einem Gangbett. Sie war bei diesem Sterbeprozess nicht dabei, obwohl sie das eigentlich wollte. Jahrzehnte später steht sie vor Gericht. Sie ist jahrelang oder sogar jahrzehntelang auf einer Station tätig, auf der ausschließlich Menschen in der sogenannten „Finalphase“ betreut werden – also Menschen, die nach gängigen medizinischen Erkenntnissen und Prognosen in den nächsten 48 Stunden versterben. „Wenn der Richter, der Staatsanwalt, die Geschwornen auch nur eine Woche auf Ihrer  Station gearbeitet hätten, wäre der Schuldspruch dann anders ausgefallen“, habe ich sie gefragt. Sie hat mir geantwortet: „Mit Sicherheit“. Und sie hat mir auch ein Zitat von Alexander von Humboldt mitgegeben, demnach die gefährlichste Weltanschauung die Weltanschauung jener ist, „welche sich die Welt noch nie angeschaut haben“. Es erscheint immer einfacher und objektiver, über etwas zu urteilen, das man noch nie selbst gesehen oder gar über längere Zeit erlebt hat – aber: Vorsicht. Im Interview hat mir diese Frau das erste Tötungsdelikt beschrieben, es ging um einen etwa 70jährigen Patienten mit schwerer Krebserkrankung und massiven Schmerzen, bei denen auch Morphium versagt hat. Es war für sie schwer anzusehen, hat sie geschildert, und irgendwann hat sie ihm kreislaufsenkende Mittel verabreicht, an denen er verstorben ist. Im zweiten Fall ging es um eine krebskranke 40jährige Frau im Finalstadium der Erkrankung. Ihr Mann hat den Wunsch geäußert, dabei zu sein, wenn seine Frau stirbt, musste aber weg, weil er seine kleinen Kinder zu Hause hatte und den Zug nicht versäumen durfte – also hat besagte Pflegeperson das kreislaufsenkende Mittel wieder eingesetzt, sodass der Mann beim Sterben dabei sein konnte. Das erklärt nicht die Handlung oder exkulpiert sie sogar, aber sie hat nach langem Schweigen zugegeben, dass es um Macht ging, dass sie daran Gefallen fand, über Leben und Tod bestimmen zu können. Am Ende des Interviews hat sie mir gesagt, sie bedaure, dass sie mit ihren Taten ihrem Berufsstand so geschadet hätte, aber die Tötungen selbst bedauerte sie nicht. Wertungen in diesem Bereich sind extrem schwierig, die juristische Betrachtungsweise ist eine, die psychologische eine andere, und eine emotionelle eine dritte. Ich denke, man ist gut beraten, hier eine interdisziplinäre Herangehensweise zu wählen. Wieder anders gelagert als die genannten Fälle sind Konstellationen in Pflegeheimen, wenn es um besonders schutzbedürftige Menschen geht, die sich oft nicht artikulieren und zur Wehr setzen können, und wenn hier jemand krause sadistische Phantasien auslebt.

MMM: Wie sieht es eigentlich mit Menschen in Gesundheitsberufen als Opfer aus? In Krimis gibt es das ja immer wieder, dass zum Beispiel der Serienmörder sich am Psychiater rächt, der ein Gutachten über ihn geschrieben hat. Wie sieht das in der Realität aus?

Thomas Müller: Da müssen wir nicht weit zurückblicken. Was die letzten drei Jahre an Fragestellungen gebracht haben, wie auch Ärzte und Wissenschaftler attackiert und verfolgt wurden und es in dem Kontext sogar zu Suiziden kam, das zeigt uns, dass Menschen in Medizinberufen gefährlich leben können. Es gibt offenbar Personen, die nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft vernünftige Maßnahmen kippen wollen, indem sie Vertreter der Medizin und Wissenschaft angreifen, ihre Reputation zu schädigen versuchen, sie telefonisch oder online terrorisiert. Das sind schwere Verbrechen. Andere Szenarien aber, zum Beispiel Serienmörder, die es speziell auf Ärztinnen oder Krankenpfleger abgesehen haben, habe ich in meiner Praxis noch nicht gesehen, auch nicht außerhalb Österreichs.

MMM: Kommen wir zu Ihrer Tätigkeit und Ihrem Tätigkeitsfeld. In Krimis gibt es Profiler,  forensische Psychiaterinnen, Kriminalpsychologen, und oft wird nicht so klar, wer eigentlich wofür zuständig ist und wie sich Aufgaben und Arbeitsweisen unterscheiden. Wie würden Sie in Kürze diese unterschiedlichen Tätigkeiten beschreiben und voneinander abgrenzen?

Thomas Müller: Eine klare Unterscheidung ist einmal, dass forensische Psychiater eine medizinische Fachausbildung haben, die Kriminalpsychologie hingegen ist ein Teilgebiet der angewandten Psychologie. Der Begriff „Profiler“ sagt eigentlich gar nichts aus und verwirrt eher, weil er suggeriert, es gäbe jemanden, der die ganze Zeit nur Täterprofile erstellt. Das allerdings ist die seltenste, die schwierigste und meist auch die am wenigsten brauchbare Tätigkeit im Feld der Kriminalpsychologie. Viel wichtiger für Kriminalpsychologen ist die Tatortanalyse: Dabei suchen wir den Tatort nach Entscheidungen und Handlungen des noch unbekannten Täters ab,  um im Vergleich zu anderen Fällen eine Schlussfolgerung ziehen zu können. Da sind wir aber weit weg von einem Täterprofil. Da sprechen wir von einem Einvernahmestrategie, von möglichen Vorstraftaten, von einer Stärken-Schwäche-Analyse, von einer möglichen Strategie für die Kommunikation mit dem Täter, den wir aber namentlich gar nicht kennen. Ein Täterprofil  hingegen ist die Charakterbeschreibung einer unbekannten Person in einer Weise, dass sie sich von der Allgemeinheit abhebt. Das ist aber im Wesentlichen nur ein Fahndungshilfsmittel für die Polizei. Der Bereich des sogenannten „Profiling“ hat in den letzten Jahren nicht nur inhaltlich ein Hype erfahren, sondern auch medial. Es gibt ja, zugespitzt gesagt, keine SOKO Kitzbühel mehr oder keine Autobahnpolizei 433 ohne gutaussehende Kriminalpsychologinnen oder -psychologen, die zum Tatort gehen, ein bisschen mit dem Finger wackeln und schon wissen: „Der Täter war 37, hat eine Schwester namens Erika, und er hatte 4 Euro 40 bei sich“. So ist das richtige Leben aber nicht. Kriminalpsychologinnen und -psychologen – das ist sehr wichtig zu verstehen – klären oder lösen kein Verbrechen. Ich habe eine vierstellige Anzahl von Tötungsdelikten analysiert, aber geklärt habe ich keines. Es ist ein zusätzliches Hilfsmittel für Organe der Strafrechtspflege. Wir messen nicht Dinge, die man am Tatort messen kann, wir untersuchen kein Blut, wir stellen nicht fest, wie der Täter heißt, wir klopfen auch nicht an Türen. Sondern wir suchen nach einem bestimmten Verhalten des Täters, nach seinen Entscheidungen. Habe ich das gefunden, muss ich dann das Verhalten und die Entscheidung des zu diesem Zeitpunkt unbekannten Täters bewerten, indem ich sie mit anderen vergleiche.

MMM: Und wann kommt die forensische Psychiatrie demgegenüber ins Spiel?

Forensische Psychiater arbeiten mit der Person, die als tatverdächtig identifiziert wurde. Sie setzen unter anderem bestimmte Test- und Messverfahren oder diagnostische Klassifikationen wie ICD-10 ein. So stellen forensische Psychiater etwa fest, ob die Person zurechnungsfähig war. Kriminalpsychologen hingegen haben ihr Einsatzgebiet, bevor es einen Tatverdächtigen gibt. Wir können also nur aus dem Verhalten von Täterinnen und Tätern Schlüsse ziehen, das wir am Tatort sehen, unsere Methode ist die Tatortanalyse. Auf einer Zeitachse gesehen ist die Kriminalpsychologie also vom Zeitpunkt der Tat bzw. ihrer Entdeckung bis zum Identifizieren eines Tatverdächtigen gefragt, und dann werden forensische Psychiater beigezogen, um über die konkrete Person etwas auszusagen. Die beiden Disziplinen können einander also ergänzen, aber nie ersetzen.

MMM: Sie haben hervorgehoben, dass die Tatortanalyse der wichtigste Teil der Arbeit von Kriminalpsychologinnen und -psychologen ist, um Täterverhalten zu entdecken und analysieren zu können. Bedeutet das auch, dass sie auch regelmäßig selbst am Tatort sind?

Thomas Müller: Nein, das ist nicht nötig. Wenn alle anderen Spezialisten den Tatort aufarbeiten – je nach Konstellation von der Gerichtsmedizin über die Toxikologie bis zu Sprengstoffanalysen  – kann die Kriminalpsychologie aus deren Erkenntnissen und Gutachten dann Täterverhalten und Täterentscheidungen ableiten. Präsenz am Tatort ist eher selten. Eines der spannendsten medialen Projekte, die ich begleitet habe, war eine BBC-Dokumentation über Jack the Ripper. Ich sollte auf Basis der verfügbaren Fakten neueste kriminalpsychologische Erkenntnisse einbringen. Das war sehr spannend, es gab Tatortzeichnungen, es gab Erkenntnisse des Coroners. Auf Basis dieser Daten ließ sich auch zu einem so alten Fall aus Sicht der Kriminalpsychologie noch Interessantes zutage fördern.

MMM: Sie haben die Zeitachse beschrieben – nochmals kurz zusammengefasst kommt die Kriminalpsychologie zum Einsatz, bevor ein Täter gefasst ist, und die forensische Psychiatrie danach. Wie kommt es aber dann, dass Sie so viele Interviews mit Täterinnen und Tätern geführt haben bzw. führen?

Thomas Müller: Das findet erst nach der letztinstanzlichen Verurteilung statt, äußerst selten im laufenden Verfahren. Diese Interviews führen wir zu wissenschaftlichen Zwecken. Wir lernen dabei quasi von den Tätern.

MMM: Was sind die Kriterien? Welche Fallkonstellation muss vorliegen, dass ein solches Interview interessant ist und wissenschaftlichen Nutzen hat?

Thomas Müller: Besonderes Interesse gilt hier einem Verhalten, das wir noch nicht interpretieren können. Wenn es etwa um ein Tötungsdelikt geht, bei dem das Opfer ganz oder teilweise zugedeckt ist, brauchen wir keine weiteren Interviews mit Tätern zu führen, denn es gibt bereits tausende Vergleichsfälle. Wir brauchen in der Psychologie Vergleichsfälle, weil wir in unserer Disziplin kein Metermaß haben, mit dem wir feststellen könnten, dass jemand zu 37 Zentimeter gefährlich ist. Wir haben auch keine Waage, die uns zeigt, dass jemand zu x Kilogramm bereits ist, ein Tötungsdelikat zu begehen. Das alles haben wir nicht, also müssen messen indem wir vergleichen. Es gibt keine zwei Fälle, die gänzlich ident sind. Aber wenn wir einen Fall, ein Tötungsdelikt, in viele einzelne Entscheidungen zerlegen, gibt es für jede davon wieder viele vergleichbare Entscheidungen in anderen Fällen. Ein Beispiel: Es wird tausende Tötungsdelikte geben, in denen das Opfer eine Frau ist. Es wird hunderte Fälle geben, in denen der Täter dem Opfer postmortale Verletzungen zugefügt hat. Und es wird wohl ein paar dutzend Fälle geben, bei denen der Täter Körperteile abgetrennt und mitgenommen haben. Aber wie viele Fälle werden sich finden, in denen alle drei Verhaltensbereiche vorkommen? Das werden nur mehr ein oder zwei sein, also sehr wenige Vergleichsmöglichkeiten. Vergleicht man aber die einzelnen Verhaltensweisen mit anderen, ähnlichen Verhaltensweisen, dann lassen sich viele Erkenntnisse gewinnen. Aus all diesen Gründen gibt es auch nicht das typische Täterprofil eines Serienmörders und es gibt nicht das typische Täterprofil eines Sexualmörders oder eines Pädophilen, sondern jeder Fall ist anders. Und das unterscheidet auch eine seriöse Kriminalpsychologie von jenen, die auf ihrer Visitenkarte „Profiler“ stehen haben.

MMM: Sie haben einmal gesagt, Menschen meinen, Sie würden „denken wie ein Serienmörder“. Was sind denn andere typische Klischees und Irrtümer über Ihre Tätigkeit, die Ihnen oft unterkommen?

Thomas Müller: Eine Menge – zum Beispiel, dass ich Tag und Nacht Menschen  analysiere und dass ich nicht im Bus oder der U-Bahn fahren kann, ohne die Menschen fortwährend zu beobachten. Oder man fragt mich, wie ich denn überhaupt leben kann mit all dem Bösen, das ich sehe, und ob ich überhaupt noch an das Gute im Menschen glauben kann. Das sind ja durchaus nachvollziehbare Fragen, aber sie bringen mich auch zum Schmunzeln. Da müsste man ebenso jeden Polizisten fragen, wie sie mit der außergewöhnlichen Situation ihre Berufes umgehen, oder auch jeden Rechtsmediziner.

Interview: Birgit Kofler

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