Krimiautor René Anour: „Ich möchte einen spannenden, einladenden Zugang zur Medizingeschichte bieten“

Der studierte Veterinärmediziner und Experte für neuartige Arzneimittel René Anour taucht in seinen Romanen kundig und detailreich recherchiert in die spannende Geschichte der Wiener Medizinischen Schule ein. Einem historischen Roman über den Wiener Narrenturm folgte die Krimireihe „Die Totenärztin“, die der universitären Gerichtsmedizin im frühen 20. Jahrhundert gewidmet ist und mit der sympathischen Hauptfigur Fanny Goldmann eine unkonventionelle und mutige junge Medizinerin in den Mittelpunkt stellt. Im Interview mit Medical Murder Mystery erzählt René Anour, wie er auf diese Protagonistin kam, was ihn am Erzählen medizinhistorischer Stoffe fasziniert, wie er die Recherche anlegt und was er selbst gerne liest.

Medical Murder Mystery: Sie sind weder Humanmediziner noch Historiker – und doch befassen sich Ihre bisherigen Bücher, der Roman zum Narrenturm und die vier Bände „Die Totenärztin“ mit medizinhistorischen Stoffen. Wie kamen Sie dazu?

René Anour: Wenn man wie ich in Wien lebt und sich auch nur ansatzweise für Medizin interessiert, stößt man früher oder später fast gezwungenermaßen auf die große Medizingeschichte dieser Stadt. Viele Entwicklungen und Erkenntnisse, von denen wir bis heute profitieren, haben in Wien ihre Geburtsstunde erlebt. Mein Ankerpunkt war zunächst der Narrenturm. Diese Einrichtung war die erste psychiatrische Klinik weltweit und steht für einen Paradigmenwechsel. Erstmals hat man psychische Erkrankungen als solche wahrgenommen und definiert und die Symptome nicht mehr Erklärungen wie einer „Besessenheit“ zugeschrieben. Die therapeutischen Möglichkeiten waren zwar sehr bescheiden, aber es war die Initialzündung für einen neuen Ansatz. Das und auch das Mysterium, das dieses Thema umgeben hat, machte diesen Stoff für mich interessant. Dann ergab eines das andere. Ich habe mich mit der Geschichte des Alten AKH beschäftigt und bin auf viele interessante und kuriose Geschichten gestoßen. Etwa jener, dass der Leibarzt Maria Theresias, Gerard van Swieten, im 18. Jahrhundert durch das Reich geschickt wurde, um mit dem Vampir-Aberglauben aufzuräumen und die Menschen aufzuklären. Das ist nur ein Beispiel von vielen, vor diesem Hintergrund haben sich auch die Themen für meine weiteren Bücher herausgebildet. Mein Anspruch ist, einen spannenden, einladenden Zugang zur Medizingeschichte zu bieten, und ich denke, grade Kriminalgeschichten können das leisten.

MMM: Innerhalb der Medizinhistorie ist die Gerichtsmedizin ein sehr spezielles Gebiet. Wie ist nach der Beschäftigung mit dem Narrenturm dann diese Thematik gereift?

René Anour: Die Gerichtsmedizin ist ein Fach, das in Wien eine ganz besondere Tradition hat, im Wesentlichen hier begründet wurde.  Das hat einen attraktiven Ansatz geboten. Und was die konkrete Figur von Fanny Goldmann betrifft, so hat mich das Spannungsfeld fasziniert: Dass diese zarte junge Frau, der ihr Umfeld das gar nicht zutraut, sich für dieses harte und für Außenstehende sogar brutal und erschütternd wirkende Thema interessiert, dafür brennt und unbedingt in dem Feld arbeiten will. Diese Kombination schien mit reizvoll. Ich wollte die Geschichte dieser Frau erzählen, die keinerlei Verständnis für ihre Begeisterung findet und die Rätsel lösen möchte, die ihr die Toten, die sie untersucht, liefern.

MMM: Es gab rund um die letzte Jahrhundertwende in mehreren medizinischen Fächern wie beispielsweise der Hirnforschung ja tatsächlich Pionierinnen, wenn auch nicht allzu viele. Hatten Sie für die Gerichtsmedizinerin Fanny Goldmann auch ein solches reales Vorbild?

René Anour: In der Gerichtsmedizin gibt es aus der Zeit, die ich erzähle, und auch lange danach keine weiblichen Vorbilder, das Fach war sehr lange eine Männerdomäne. Aber es lag Anfang des 20. Jahrhunderts so viel an Veränderung und Aufbruch in der Luft, gerade, was Medizin und Frauenrechte betrifft, dass eine solche Person durchaus hätte existieren können – daher habe ich die Figur entwickelt. Ich spreche in der Totenärztin-Reihe aber auch reale Medizin-Pionierinnen an. Das Lieblingsbuch meiner Protagonistin ist zum Beispiel „Das Goldene Frauenbuch: Die Frau als Hausärztin“, ein tatsächlich existierendes, sehr progressives Werk von Anna Fischer-Dückelmann, das zum Millionenbestseller wurde.

MMM: Genau den Aufbruch, der so charakteristisch ist für die Zeit vor dem 1. Weltkrieg, verkörpert Fanny Goldmann auch hervorragend, mit ihren fortschrittlichen Ansichten und einer medizinische Karriere nicht in einem erwartbaren Bereich wie der Pädiatrie, sondern in einem „Männerfach“. Das macht sie besonders interessant.

René Anour: Das war auch für mich der Reiz. Wer sie nicht kennt, das kommt im Buch immer wieder vor, hält sie für „das zarte, schüchterne Fräulein“, der man eher einen Seidenmalkurs zutraut als eine Obduktion. Das sagt auch ihr Kollege immer wieder.

MMM: Sie sind hauptberuflich in der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit tätig, der AGES, und auch europäischer Ebene im Bereich der Zulassung neuer Arzneimittel. Was war eigentlich der Auslöser, neben diesen Tätigkeiten auch noch zunächst einen medizinhistorischen Roman und dann Medizinkrimis zu schreiben?

René Anour: Viele Interessen zu haben ist aus meiner Sicht etwas sehr Schönes. Ich habe schon länger geschrieben, aber im kleineren Rahmen. Ich interessiere mich für viele medizinische und historische Themen und ich schreibe gern, also war es irgendwann naheliegend, die Dinge zusammenzuführen, die mich begeistern.

MMM: Man könnte ja vermuten, dass Ihre Arbeit im Bereich neuartiger Medikamente auch eine ganze Menge Stoff für aktuelle Medizinkrimis oder Wissenschaftsthriller liefern würde. Reizt Sie das nicht, oder wäre Ihnen das zu nahe an der anderen beruflichen Tätigkeit?

René Anour: Einmal einen Krimi in diesem Setting zu schreiben schließe ich gar nicht aus, denn in dieser Welt der neuen Medikamentenentwicklungen tut sich viel. Es hat mich einfach noch nicht das ganz konkrete Thema für einen Roman gepackt. Und es ist natürlich auch eine Gratwanderung. Geschichten in diesem Setting laufen Gefahr, schnell einmal in eine wertende Position oder in Klischees zu fallen, wie jenes der „bösen Pharmaindustrie“ oder der „bösen Medizinbürokraten in den Zulassungsstellen“. Ich weiß aus meiner täglichen Arbeit um die unendlich vielen Schattierungen, und die zu erzählen, ist sicher nicht ganz einfach. Aber vielleicht kommt das richtige Thema noch auf mich zu.

MMM: Gerade eine solche differenzierte und kundige Darstellung, die über die herkömmlichen Klischees hinausgeht, wäre wohltuend. Aber zurück zu den historischen Stoffen. Wie gehen Sie an die Recherche heran, um möglichst große Authentizität zu erreichen?

René Anour: Ich habe das große Glück, über eine Zeit zu schreiben, über die sehr viel Information verfügbar ist: Was war die Mode, was waren die Diskussionen, was waren die Neuerungen, was hat man gemacht und worüber hat man gesprochen, wie war der Alltag, was hat man verdient? Über all das gibt es viel Material. Zudem schreibe ich über Schauplätze, von denen viele erhalten sind. Viele Orte sehen noch sehr ähnlich aus wie Anfang des 20 Jahrhunderts. Das macht es viel einfacher, sich bestimmte Szenen vorzustellen. Es gibt sogar einige Filmaufnahmen über das Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wir haben also ein sehr umfassendes Bild. Ich hätte es sicher schwerer in der Recherche, wenn ich über das Mittelalter schreiben würde, da müsste ich tiefer graben.

MMM: Es gibt viele Quellen, mit welchen arbeiten Sie besonders gerne? Sind es zum Beispiel medizinische Lehrbücher oder Zeitungen, was ist aus Ihrer Sicht besonders hilfreich?

René Anour: Das ist ein Mix von vielen Dingen. Zeitungen zum Beispiel vermitteln mir sehr gut ein bestimmtes Lebensgefühl. Das tun Fachbücher nicht im selben Ausmaß, aber die liefern wiederum die Fachsprache der Ärztinnen und Ärzte dieser Zeit.

MMM: Apropos Sprache. In den Totenärztin-Geschichte gibt es eine breite Palette des sprachlichen Ausdrucks, da werden medizinische Fachbegriffe verwendet, wenn sie die Figuren am gerichtsmedizinischen Institut unterhalten, da ist geht es auch mal luftig-flapsig zwischen den Freundinnen zu und anderes mehr. Wie haben Sie sich an die Sprache der Zeit angeneähert?

René Anour: Ich habe viel von Autoren dieser Zeit gelesen, um ein Sprachgefühl zu bekommen, beispielsweise Arthur Schnitzler. Ich finde, in bürgerlichen Kreisen der Zeit hat man ein sehr schönes österreichisches Deutsch gesprochen, von dem viel verloren gegangen ist. Das habe ich versucht einzubringen. Und natürlich muss es dann auch zu den einzelnen Figuren passen. Die sprachlichen Unterschiede zwischen Stadt und Land oder zwischen verschiedenen sozialen Schichten waren damals sehr viel ausgeprägter als heute.

MMM: Wie gehen Sie eigentlich an die Planung Ihrer Geschichten heran – sind Sie ein Autor, der sehr detailliert plottet oder lassen Sie gerne der Entwicklung Ihren Lauf?

René Anour: Ich finde es schon schön, wenn sich Geschichten relativ frei entwickeln können. Aber ich arbeite mit einem großen Publikumsverlag, natürlich muss hier ich am Anfang einer Reihe ein relativ klares Bild davon vermitteln können, wohin die Handlung sich entwickeln wird, ich muss viel über die Figuren wissen und über den Plotverlauf.

MMM: Hatten Sie für Ihre Figur Fanny Goldmann von Anfang an eine Reihe im Blick?

René Anour: Ja, ich wollte über diese Protagonistin gerne mehrere Bücher schreiben, und ich hatte schon von Anfang an einen großen Bogen vor für diese Geschichte. Ich bin froh, diese Möglichkeit bekommen zu haben. Ich glaube, dass das auch der Tiefe der Figuren gut tut, wenn sie nicht nur ein spezifisches Abenteuer bestehen müssen, sondern sich über mehrere Geschichten hinweg entwickeln können, Eigenheiten zeigen und einen Weg beschreiten können.

MMM: Auch vor diesem Hintergrund der Entwicklung der Figuren ist es wohl empfehlenswert, die vier Bände mit der Totenärztin in der Reihenfolge des Erscheinens zu lesen.

René Anour: Das würde ich anregen, bestimmte Anspielungen und Verweise sind sonst möglicherweise schwierig zu verstehen.

MMM: Mit Band 4 ist es jetzt endgültig zu Ende, oder kommt vielleicht doch noch eine Geschichte mit Fanny Goldmann nach?

René Anour: Diese Geschichte hat das Ende gefunden, das ich mir gewünscht habe, und ich möchte hier nichts weitererzählen. Im März 2024 kommt jetzt erst einmal der Gegenwartskrimi „Tödlicher Duft“ heraus, in dem es um die Macht der Gerüche und Düfte geht, und was sie mit uns machen. Das ganze spielt in Grasse, der Weltstadt des Parfums und ich freue mich schon sehr auf die Premiere.

MMM: Sie erklären am Ende der einzelnen Fanny-Goldmann-Bände immer, was historischen Realitäten entspricht und was Sie dazu erfunden haben. Wie gehen Sie mit dem Spannungsfeld der historischen Detailtreue und der künstlerischen Gestaltung und Freiheit um?

René Anour: Das ist ein Thema, das ich sehr ernst nehme. Ich denke, die Leserinnen und Leser haben einen Anspruch darauf, dass eine historische Geschichte der Realität der beschriebenen Zeit nahekommt. Um in diesem Setting dann eine plausible und spannende Geschichte zu erzählen, muss man sich natürlich auch Freiheiten nehmen, das ist bei in der Gegenwart angesiedelten Geschichten genauso. Ich finde aber, die Freiheiten sollten keinen zu großen Umfang bekommen, und ich für meinen Teil mache eben am Ende auch transparent, was wahr und was erfunden ist. Das historische Genre hat einen sehr tollen Aspekt, es ist eine Einladung, möglichst mit Haut und Haaren und ganzem Empfinden diese bestimmte Zeitperiode zu erleben. Und daher ist beides gefragt: Storytelling und historische Genauigkeit.

MMM: Eine abschließende Frage noch an Sie als Leser: Was lesen Sie gerne, nicht zuletzt aus dem Genre des Medizin- und Wissenschaftskrimis?

René Anour: Ich lese sehr viel. Während ich an Romanen schreibe, versuche ich aber, Dinge zu lesen, die sich stark von der aktuellen Arbeit unterscheiden. Wenn das Thema oder Genre einander zu ähnlich sind, kann ich nicht einfach und entspannt lesen, sondern beginne es sofort zu vergleichen. Während ich an den medizinhistorischen Krimis gearbeitet habe, habe ich zum Beispiel gerne Fantasy gelesen. Was meine Krimipräferenzen betrifft: Ich habe es gerne, wenn eine Portion Humor dabei ist. Die „Achtsam-Morden“-Reihe finde ich zum Beispiel sehr kurzweilig und unterhaltsam. Mir ist wichtig, dass das Lesen einer Geschichte Unterhaltung bietet, dass sie berührt, dass sie spannend und lustig ist, und dass man en passant in ein Setting und eine Zeit entführt wird, und man das genießen kann, ohne dass es zu trocken daherkommt. Das ist mir als Leser wichtig, und umso mehr natürlich auch als Autor.

Interview: Birgit Kofler

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