Gerichtsmedizinerin und Krimiautorin Saskia Gauthier: „Beim Schreiben rutsche ich in eine ganz andere Welt“

Die Gerichtsmedizinerin Saskia Gauthier schreibt mit großem Erfolg Kriminalromane. Bisher sind zwei Bände mit der Gerichtsmedizinerin Lisa Klee bei Gmeiner erschienen, im März 2025 erscheint der dritte Fall. Im Interview mit Medical Murder Mystery erzählt Saskia Gauthier, wie sie zum Schreiben kam, wie ihre Kolleginnen und Kollegen darauf reagieren und wie sie die beiden Welten auseinanderhält. Zudem gibt sie Einblicke in ihren gerichtsmedizinischen Alltag und erklärt, warum sie beim Krimischreiben zwar einen roten Faden braucht, ihre Figuren aber eigene Wege gehen dürfen.
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Zur Person:
Saskia Gauthier wurde 1978 in Ulm geboren. Nach dem Medizinstudium in München, verschiedenen Nebenjobs als Animateurin in Ferienresorts und bei Fernsehshows von Pro7, zog sie nach Zürich, wo sie ihre Ausbildung zur Fachärztin für Rechtsmedizin absolvierte und im Rahmen eines Nationalfonds-Forschungsprojekts mehrere wissenschaftliche Publikationen zum Thema Suizid veröffentlichte. Seit 2017 arbeitet sie als Oberärztin im Institut für Rechtsmedizin Aargau. Die Ideen für ihre Krimis findet sie während des Arbeitsalltags. Ihr umfangreiches Fachwissen und die Beteiligung an den polizeilichen Ermittlungen zusammen mit einer ordentlichen Portion Humor kennzeichnen ihre Krimis. Bisher bei Gmeiner erschienen sind „Die dunkeln Wasser der Limmat“ (2022), „Verborgene Schreie am Vrenelisgärtli“ (2023), und ein Kurzkrimi in der Anthologie MordsSchweiz 2. Im März 2025 erscheint „Der Fluch der Aargauer Knochen“.
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Medical Murder Mystery: Du bist als Oberärztin in Deiner gerichtsmedizinischen – oder rechtsmedizinischen, wie man das Fach in der Schweiz und Deutschland nennt – Tätigkeit sehr beschäftigt, Du publizierst wissenschaftlich. Wie kam es, dass du zudem auch noch begonnen hast, Krimis zu schreiben?
Saskia Gauthier: Man braucht einen Ausgleich zu all dem Stress im Beruf. Für mich ist Schreiben neben Sport eine wunderbare Möglichkeit, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen und meiner Fantasie Raum zu geben. Da ich selbst leidenschaftlich gerne Krimis lese, hatte ich schon lange den Wunsch, einen eigenen zu schreiben. Ursprünglich habe ich das nur für mich gemacht – ich habe zunächst nicht damit gerechnet, dass ein Verlag das Buch veröffentlichen wird. Inzwischen gibt es vom ersten Buch bereits die dritte Auflage, das zweite ist erschienen und das dritte kommt im Frühjahr.
MMM: Du sagst, den ersten Fall mit Lisa Klee, der unter dem Titel „Die dunklen Wasser der Limmat“ erschienen ist, hast Du ursprünglich nur für Dich geschrieben. Hat es das Schreiben einfacher gemacht, dass Du noch keine Veröffentlichung und kein Publikum vor Augen hattest?
Saskia Gauthier: Ja durchaus, das mag geholfen haben. Als das Buch dann fertig war, fand ich es aber doch schade, es nach der langen Arbeit einfach in der Schublade zu lassen. Also habe ich es an Verlage geschickt – und es hat dann tatsächlich gleich geklappt.
MMM: War es beim zweiten Buch anders, als Du schon wusstest, dass es publiziert wird?
Saskia Gauthier: Das zweite Buch habe ich innerhalb eines Jahres fertiggeschrieben und schon eingereicht, bevor das erste überhaupt erschienen ist. Beim dritten Buch habe ich dann gemerkt, dass ich selbst nach den Erfolgen der ersten Titel nochmals deutlich höhere Ansprüche an die Qualität von Sprache und Handlung stellte. Der Druck war jetzt größer.
MMM: Dein beruflicher Hintergrund ist eine besondere Stärke Deiner Bücher – Du weißt genau, wovon du schreibst. Wie geht es Dir eigentlich mit anderen Krimis, in denen die gerichtsmedizinische Tätigkeit so gar nicht realitätsgetreu dargestellt wird?
Saskia Gauthier: Interessant, dass Du das ansprichst. Eine Krimiserie, die ich sehr gerne anschaue, ist zum Beispiel „Hubert und Staller“. Dort ist die Rechtsmedizinerin für alles zuständig, von der Spurensicherung über alle Laboranalysen und -untersuchungen, sie weiß immer alles und betreut nur ein Polizeikommissariat. Die Leiche wird vor Ort nie ausgezogen, wenn sie untersucht wird. Das sind nur einige Beispiele falscher Darstellungen, was meinen Beruf betrifft. Aber weil ich die Serie ansonsten wegen ihrer Charaktere und Geschichten so gut finde, ist mir das eigentlich völlig egal. Ich lege sehr viel Wert auf Figuren, Persönlichkeiten und Atmosphäre und darauf, dass die Fälle insgesamt stimmig sind. Wir bewegen uns in der Fiktion, und da haben wir alle eine gewisse literarische Freiheit. Nur wenn es völlig hanebüchen wird mit der Darstellung der rechtsmedizinische Welt, lese oder schaue ich nicht weiter. Dass wir ständig fälschlich als „Pathologen“ bezeichnet werden, stört mich allerdings wirklich, da Pathologie ein komplett anderes Fachgebiet ist.
MMM: Deine Protagonistin, die Assistenzärztin Lisa Klee, ist stark an Deine eigenen Erfahrungen angelehnt. Wie entwickelst Du die Figur weiter?
Saskia Gauthier: Es ist einfacher, über etwas zu schreiben, das man gut kennt. Und die eigenen Erfahrungen kann ich authentisch vermitteln. Insofern lag es nahe, dass Lisa zumindest zu Beginn nahe an meiner eigenen Lebensrealität war. Aber jetzt entwickelt sie sich auch ein Stück weit von mir weg. Ihre Grundcharakterzüge werden bleiben, aber sie wird ihre eigenen Wege gehen. Das ist mir auch wichtig, damit die Menschen in meinem Berufsalltag nicht in Versuchung kommen, mich mit Lisa zu vergleichen. Ein Polizist, mit dem ich oft zusammenarbeite, sagt tatsächlich im Scherz immer „Lisa“ zu mir.
MMM: Nicht nur Lisa hat gewisse Ähnlichkeiten mit Dir, generell sind Deine Geschichten sehr nahe an Deinem Arbeitsalltag. Wie gehst Du da vor, um Realität und Fiktion zu trennen?
Saskia Gauthier: Beim Schreiben rutsche ich tatsächlich in eine ganz andere Welt. Die Fälle, die ich beschreibe, sind ja nicht so speziell, dass man sie aus meinem Berufsalltag wiedererkennen würde. Es sind Konstellationen, wie sie in unserem Beruf hundertfach vorkommen. Natürlich sind sie an verschiedene Erfahrungen angelehnt, aber selbstverständlich frei erfunden. Diese Trennung zu machen, finde ich gar nicht so herausfordernd. Sehr wohl herausfordernd finde ich es, dass keine meiner Kolleginnen und Kollegen sich in Figuren wiedererkennen oder glauben, sich wiederzuerkennen.
Wie haben Deine Kolleginnen und Kollegen eigentlich auf Deinen ersten Roman reagiert?
Saskia Gauthier: Nach fünf Jahren Arbeit am Buch habe ich kurz vor der Veröffentlichung all meinen Mut zusammengenommen und es meinem Chef erzählt. Er hat sehr positiv reagiert und unterstützt mich, auch bei der neuen Geschichte, die im März erscheint und die in genau dem Kantonsspital spielt, in dem ich arbeite. Auch von vielen Staatsanwälten und der Polizei, bekomme ich positive Rückmeldungen. Das freut mich natürlich.
MMM: In Deutschland und Österreich ist die Gerichtsmedizin in der Krise, unter anderem wegen des Problems, dass es nicht ausreichend Nachwuchs im Fach gibt. Wie ist die Situation in der Schweiz?
Saskia Gauthier: Bei uns ist es ähnlich. Allein an unserem Institut haben wir aktuell eine Assistenzarzt- und eine Oberarztstelle ausgeschrieben. Diese Stellen waren schon einmal vakant und es gab sehr wenige Bewerbungen. Wir sind ein kleines Team, und es fehlen uns zwei Vollzeitstellen. Das macht sich natürlich in der Arbeitsdichte und -belastung bemerkbar.
MMM: Können Romane wie Deine, mit der sehr authentischen Darstellung Deiner Arbeit, dabei helfen, das Image des Fachs aufzupolieren?
Saskia Gauthier: Da muss man schon realistisch sein, meine Bücher sind vermutlich nicht bekannt genug, um eine so große Wirkung zu haben. Aber grundsätzlich können solche Geschichten durchaus dazu beitragen, Interesse für unser Fach zu schaffen und vor allem auch die Bedeutung der Rechtsmedizin aufzuzeigen. Vielen Menschen ist ja nicht bewusst, wie breit unser Tätigkeitsfeld ist. Außerdem sind meine Bücher Unterhaltungsliteratur und keine Abhandlungen über die Rechtsmedizin.
MMM: Dein erster Roman beginnt mit einem assistierten Suizid, den Lisa Klee zu begutachten hat. Das ist ein Thema, mit dem Du Dich auch wissenschaftlich beschäftigt hast. Unter anderem hast Du publiziert, dass die Fallzahlen in der Schweiz beständig steigen. Ist das ein Zeichen, dass es ein Problem gibt mit der Schweizer Regelung zu diesem Thema?
Saskia Gauthier: Ich denke nicht, dass wir ein Problem haben. Der Punkt ist, dass wir hier in der Schweiz keine klare gesetzliche Regelung haben – das ist vielen nicht bewusst. Im Strafgesetzbuch ist ausschließlich festgelegt, dass Beihilfe zum Suizid nur aus selbstsüchtigen Motiven strafbar ist. Außerdem muss die Person, die diese Unterstützung in Anspruch nimmt, urteilsfähig sein. Das ist im Nachhinein praktisch nicht nachweisbar und kann für alle Beteiligten zu unbefriedigenden Situationen führen. Bei jedem assistierten Suizid sind wir und die Polizei vor Ort. Wir führen die Leichenschau durch, prüfen die Unterlagen zur Urteilsfähigkeit und kontrollieren, ob alles korrekt ablief und die Diagnosen nachvollziehbar sind. Andererseits funktioniert das System ja auch recht gut. Eine Regelung wie in den Beneluxstaaten, wo die Unterlagen zur Urteilsfähigkeit vorab geprüft werden, fände ich allerdings durchaus sinnvoll. Aber die konkrete Umsetzung ist komplex – das sieht man ja in Deutschland und Österreich.
MMM: Dein erster Fall ist ungewöhnlich aufgebaut – er beginnt nicht mit einem Mord, sondern es dauert recht lange, bis die üblichen Ermittlungen einsetzen. Bis dahin gibt es Verdacht, Unsicherheit, Hinweise. Wie bist Du auf diesen Plot gekommen?
Saskia Gauthier: Das hat sich wohl deshalb so ergeben, weil mich diese Fragen täglich beschäftigen: Ist das eine natürliche Todesursache, hat jemandem nachgeholfen, was könnte dahinter stecken, gibt es verdächtige Hinweise? Diese Unsicherheiten begleiten uns immer, und Lisa ist noch in besonderem Maß unsicher. Sie ist ja – anders als die Protagonistinnen in vielen anderen Krimis – keine erfahrene Rechtsmedizinerin, die schon alles weiß, sondern steht erst am Anfang ihrer Karriere. Da wäre es mir unrealistisch erschienen, sie gleich ermitteln zu lassen.
MMM: Du erzählst die Geschichten einerseits in der ersten Person, aus der Perspektive Lisas, gehst dann aber immer wieder auch in andere Perspektiven. Warum hast Du Dich dafür entschieden?
Saskia Gauthier: Die Ich-Perspektive habe ich nach einigem Experimentieren gewählt, damit habe ich mich am wohlsten gefühlt. Aber die ganze Geschichte ausschließlich aus dieser einen Perspektive zu erzählen, fand ich zu einschränkend. Der Wechsel erlaubt mehr Handlungsspielraum, auch für das Legen falscher Fährten.
MMM: Wie gehst Du bei der Planung der Geschichten vor, plottest Du sehr detailliert oder entwickelt sich viel beim Schreiben?
Saskia Gauthier: Ich weiß von Anfang an, wer der Täter oder die Täterin ist und welche Personen vorkommen. Dann recherchiere ich, fülle Lücken auf, und schreibe. Die Figuren entwickeln sich dann aber manchmal anders als geplant, sodass ich vom ursprünglichen Plot etwas abweichen muss. Aber der rote Faden, der Täter und sein Motiv stehen fest und bleiben auch.
MMM: Welche Aspekte magst Du besonders an Deinem „Zweitleben“ als Krimiautorin – das Schreiben an sich, die Promotion-Phase nach dem Erscheinen des Buchs, die Kontakte mit der Öffentlichkeit, wie Lesungen?
Saskia Gauthier: Ich habe neben Beruf und Familie selten mehr als eine Stunde am Tag zum Schreiben, kenne also keine längeren, isolierten Schreibphasen. Aber diese beschränkte Zeit, die ich zum Schreiben habe, genieße ich sehr. Auch die Interaktion mit dem Publikum bei Lesungen ist inspirierend und oft berührend. Einmal gab mir jemand einen Brief, in dem er beschrieb, wie sein Bruder vor vielen Jahren in einer Lawine am Vrenelisgärtli starb, also dem Schauplatz meines zweiten Romans. Die Promotion, besonders auf Social Media, liegt mir hingegen nicht so sehr – aber gehört eben auch dazu. Sehr bereichernd finde ich den Austausch mit anderen Autorinnen und Autoren, wie mit Dir. Als Mediziner sind wir sehr strukturiert und getaktet. Hauptberuflich Schreibende ticken oft ganz anders, haben andere Schwerpunkte. Das ist eine spannende Auseinandersetzung.
Welche Romane, und besonders Krimis, liest Du selbst gerne?
Saskia Gauthier: Einer meiner Lieblingsautoren ist Martin Suter – seine Figuren und ihre Lebenswelten begeistern mich immer wieder. Durch die Autorentätigkeit habe ich auch angefangen, Krimis Schweizer Kollegen zu lesen, von denen ich viele sehr gerne mag, und die in den Buchhandlungen leider nicht selten ein stiefmütterliches Dasein führen. Ich lese aber zum Beispiel auch gerne Charlotte Link oder Harlan Coben. Und Fred Vargas mit ihrem Kommissar Adamsberg schätze ich sehr. Das sind nur einige Beispiele. Ich lese sehr viel, quer durch, und ich mag originelle Protagonisten. Allwissende perfekte Ermittler oder eine zu sensationsheischende Handlung sind nicht so mein Fall.
Interview: Birgit Kofler