Krimiautorin Mirella Kuchling: „Beim Schreiben lasse ich mich selbst überraschen“

Die Autorin Mirella Kuchling ist studierte Historikerin und Germanistin, zuletzt hat sie in der edition keiper den historischen Krimi „Die Engelmacherin von Graz“ veröffentlicht. Wie sie auf das Thema kam, warum in Geschichten dieser Art auch eine Menge Gesellschaftskritik steckt und welche weiteren Krimi-Pläne sie hat, erzählt sie im Interview mit Medical Murder Mystery.
Zur Person
Mirella Kuchling ist studierte Historikerin und Germanistin, hat als Journalistin gearbeitet und ist in der Erwachsenenbildung tätig. Als Autorin ist sie in unterschiedlichen Genres wie dem Frauenroman, True Crime oder zuletzt historischen Krimis zu Hause.
Medical Murder Mystery: Deine ersten Erfolge als Autorin hast Du mit der „Frauenzimmer“-Reihe gelandet, drei humorvollen Bänden über die Abenteuer einer Neo-Singlefrau. Von dort zum doch sehr düsteren historischen Krimi „Die Engelmacherin von Graz“ ist es ein sehr großer Sprung. Wie kam es dazu?
Mirella Kuchling: Einerseits interessiert mich einfach so viel, ich möchte am liebsten über alle Themen schreiben. Als Leserin habe ich schon früh das gruselige Element bevorzugt, zum Beispiel Bram Stokers Dracula, oder Mary Shelleys Frankenstein und ähnliche Werke. Nach den drei Frauenzimmer-Bänden habe ich mit einem Kurzkrimi bei einem Sammelband mitgemacht, in dem es darum ging, auf Texte von mittelalterlichen Autoren zu referieren. Der Text hat mich zum Fine Crime Festival gebracht und so bin ich letztlich beim Krimi-Genre gelandet. Ich mag humorvolle Sachen sehr, muss ich sagen, aber generell bin ich doch eher von der gruseligen Sorte.
Medical Murder Mystery: „Die Engelmacherin von Graz“ ist kein ausgesprochener Medizinkrimi, sondern im paramedizinischen Setting angesiedelt. Und doch erzählt der Roman ein wichtiges Stück Medizingeschichte, vor allem Frauen-Medizingeschichte. Was hat Dich denn an dem wirklich belastenden, düsteren Stoff gereizt?
Mirella Kuchling: Als ich für mein vorletztes Buch „Mörderische Frauenzimmer“, eine Sammlung haarsträubender Kriminalfälle aus aller Welt und aus unterschiedlichen Zeiten, recherchiert habe, sind mir viele Frauen untergekommen, die aufgrund der Verhältnisse mit ledigen Kindern zugrunde gegangen oder zu Mörderinnen geworden sind. Unter anderem kam mir ein historischer Fall aus dem viktorianischen England unter, die wahre Geschichte einer Engelmacherin, die je nach Quellen 200 bis 400 Säuglinge umgebracht hat. Das hat mich im negativen Sinn sehr beeindruckt. Und es war mir auch ein Anliegen, über die verzweifelte Lage der Frauen zu schreiben, die ungewollt schwanger wurden und allein dafür verantwortlich gemacht wurden. Aber die Männer, die diese Frauen oft sogar bedroht oder vergewaltigt haben, bleiben außen vor. Auch deshalb fand ich das Thema sehr wichtig, bis heute wichtig.
Medical Murder Mystery: Wie hast Du denn die Zeit und auch die historischen Gegebenheiten in Graz recherchiert. Mit welchen Quellen hast Du gearbeitet, um die Geschichte authentisch zu machen?
Mirella Kuchling: Ich habe Germanistik und Geschichte studiert und habe mich in meiner Diplomarbeit und Dissertation mit Graz beschäftigt. Da habe ich viel über die Stadtgeschichte gelernt, viele Bücher über Graz gelesen. Bei einer Spezialfrage habe ich auch den Grazer Stadthistoriker um Rat gefragt, manche Themen auch online recherchiert. Sozialhistorisch ist das viktorianische England eines meiner Steckenpferde, auch das war inspirierend. Und was die Hauptfigur betrifft, hatte ich dieses reale Vorbild aus England., vergleichbar mit der Romanfigur Hannibal Lecter, die ja auch auf einen tatsächlichen Killer referiert.
Wie viel hat die Hauptfigur von „Die Engelmacherin von Graz“ vom historischen englischen Vorbild und wie viel ist fiktional dazugekommen?
Mirella Kuchling: Auch diese historische Figur hat Kinder ermordet, sie hat kleine Pfleglinge aufgenommen und sie möglichst schnell „beseitigt“. Auch, dass sie die kleinen Leichen in Packpapier gewickelt und ins Wasser geworfen hat, ist authentisch. Aus der Themse ist bei mir die Mur geworden. Das historische Vorbild hatte belegtermaßen drei Kinder, aber wohl keine so bösartige Tochter wie die Christina in meinem Roman. Alles andere ist frei erfunden.
Wie gehst Du beim Schreiben vor, hast Du einen ausgearbeiteten Plot oder schaust Du eher, was sich beim Schreiben ergibt?
Mirella Kuchling: Ich muss sagen, dass ich eigentlich sehr wenig Zeit zum Schreiben habe, zwischen meiner Arbeit und familiären Betreuungsaufgaben. Und wenn ich Zeit finde, setze ich mich hin und schreibe und lasse mich selbst überraschen, was dann passiert. Natürlich habe ich einen Rahmen, bei der Geschichte über die Engelmacherin hatte ich die Figuren vor mir, aber das ist es schon an Planung. Das ist vielleicht ein sehr naiver Zugang, aber so passt es einfach am besten für mich
Du hast vorhin erwähnt, dass „Die Engelmacherin von Graz“ eine Art Offspring von der Recherche zum Buch „Mörderische Frauenzimmer“ war, in dem Du historische Kriminalfälle von Serienkillerinnen aufbereitet hast. Was findest Du an True Crime so interessant?
Mirella Kuchling: Menschen lassen sich Dinge einfallen, die man zum Teil so gar nicht erfinden kann, das finde ich spannend. All diese Grausamkeiten und morbiden Pläne, die sind teilweise so abartig, unvorstellbar. Für mich hat es auch eine Faszination, gerade bei historischen Fällen, wie die Umstände Frauen dazu gemacht haben, was sie dann geworden sind – also zu Mörderinnen. In diesen Geschichten steckt natürlich auch viel Gesellschaftskritik.
Der Verlag, die edition keiper, hat „Die Engelmacherin von Graz“ als ersten Grazer Bezirkskrimi gelabelt. Heißt das, Du planst weitere?
Mirella Kuchling: Ja, der Bezirk Geidorf wird Schauplatz des nächsten Bezirkskrimis sein. Aber ich habe noch nicht angefangen, daran zu arbeiten, weil jetzt erst einmal im Frühjahr ein Band über „mörderische Paare“ erscheint, also reale Verbrecher-Paare, die Serienmorde verübthaben. Bonnie und Clyde kommen nicht vor, über sie wurde schon viel geschreibenm, dafür aber eine ganze Reihe von sehr spannenden bei uns kaum oder wenig bekannten Fällen.
Und der nächste Bezirkskrimi wird wieder, wie die Geschichte der Engelmacherin, im späten 19. Jahrhundert spielen?
Mirella Kuchling: So habe ich es vor, es sollen immer wieder Blitzlichter auftauchen, die Verbindungen zwischen den einzelnen Bänden schaffen.
Du hast erwähnt, dass das Fine Crime Festival für Dich ein Türöffner ins Krimi-Genre war.Was findest Du als Autorin am Krimi so interessant?
Mirella Kuchling: Besonders spannend finde ich historische Kriminalfälle. Denn dadurch rückt die Gewalt, die Grausamkeit in eine Vergangenheit, was es irgendwie erträglicher macht. Das ist wichtig für mich, denn ich bin überhaupt nicht so abgebrüht. Ich bin ja eher ein nervöser Typ. Ich kriege zum Teil von Kinderfilmen Albträume.
Das hätte ich jetzt bei der Lektüre von „Die Engelmacherin von Graz“ nicht gedacht. Das ist schon ziemlich harte Ware, wenn ich nur an den einigermaßen heftigen Einstieg denke. Wie schaffst Du es, diese zum Teil sehr brutalen Szenen zu entwickeln und zu schreiben?
Mirella Kuchling: Einerseits plane ich das nicht unbedingt, ich schreibe, was gerade in dem Moment in meinen Kopf kommt. Andererseits ist es historisch, die Vergangenheit schafft eine angenehme Distanz. Und letztendlich ist es erfunden, Gott sei Dank. Das Schreiben historischer Verbrechen ist für mich fast so, als würde ich eine Chronik schreiben, als wäre ich dabei und erzähle einfach, was passiert. Oder als würde ein Film im Kopf ablaufen.
Über Deine Arbeit im Bereich True Crime und historischer Krimi haben wir schon gesprochen. Gibt es andere Sub-Genres aus der Krimiwelt, die Dich reizen?
Mirella Kuchling: Thriller finde ich auch sehr spannend. Aber im Moment bin ich sehr zufrieden dort, wo ich gerade aktiv bin. Wir werden sehen, wie sich das weiterentwickelt. Vielleicht geht es auch noch einmal in Richtung Kinderbücher. Alles ist möglich.
Hast Du vielleicht eine Leseempfehlung für unsere Leserinnen und Leser, welcher Krimi hat Dir zuletzt besonders gefallen?
Mirella Kuchling: Eine Empfehlung ist die „Flavia de Luce“-Reihe vom kanadischen Autor Alan Bradley. Inzwischen gibt es auf deutsch elf Bände um ein junges Mädchen, das total Chemie-begeistert und eine talentierte Hobby-Detektivin ist. Zu Beginn der Reihe ist sie erst elf, und doch der Polizei immer eine Nasenlänge voraus. Die finde ich absolut lesenswert. Ich bin eine Vielleserin, und schnuppere mal hier, mal da rein. Und wenn ich ein Buch beginne, kann ich nicht mehr aufhören zu lesen. Dann lese ich wirklich überall, auch in der Küche, wenn ich im Kochtopf rühre. Ich habe immer ein Buch vor der Nase.
Interview: Birgit Kofler
Die Engelmacherin von Graz
edition keiper, 2025, 350 Seiten, 24 Euro
Der historische Kriminalroman spielt im späten 19. Jahrhundert in Graz, vor allem im Bezirk Gries. Hauptfigur ist Antonia Schreiner, eine abgebrühte, berechnende und skrupellose „Engelmacherin“, die unter dem Deckmantel der Hebamme verbotene Abtreibungen vornimmt und Säuglinge tötet – aus Habgier, Berechnung und mit einer verstörenden Selbstgerechtigkeit. Parallel dazu werden weitere Figuren eingeführt, die in ihr Netz geraten oder ihr Umfeld prägen. Zum Beispiel Marie Pichler, ein unschuldiges, schönes Blumenmädchen aus verarmter Familie, das sich unglücklich in den Kaufmannssohn Werner verliebt. Oder der taubstumme Hans, den Antonia als Diener ausnutzt, der klüger ist, als sie glaubt, und vieles beobachtet. Mirella Kuchling schildert detailreich das lokale Kolorit von Graz um 1880 bis 1890, mit historischen Bezügen und harter sozialer Realität. Der Ton ist düster, aber atmosphärisch, mit realistischen Dialogen, Milieustudien und historischen Anspielungen. Gleichzeitig schwingt Gesellschaftskritik mit: die Doppelmoral, die Männer von Verantwortung freispricht, während Frauen sozial und rechtlich geächtet werden.