Polizeiärztin Yvonne Popper: „Die Tragödien, die wir sehen, erden sehr“

Dr. Yvonne Popper ist Polizeiärztin in Wien. Welche Aufgaben Amtsärztinnen und -ärzte haben, wann Todesfälle für sie verdächtig sind und ob sie trotz aller eigenen Tatorte noch gerne Krimis liest und schaut, erzählt die engagierte Medizinerin im Interview mit Medical Murder Mystery.

Zur Person
Yvonne Popper kommt aus einer Ärztefamilie und wollte immer Medizinerin werden. Sie ist Ärztin für Allgemeinmedizin, Notärztin und Amtsärztin und arbeitete viele Jahre als Schulärztin und betreute als Arbeitsmedizinerin für verschiedene Unternehmen, bevor sie bei den Wiener Linien, ein Unternehmen mit mehr als 9.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, als Leiterin der Arbeitsmedizin, Arbeitspsychologie und Arbeitssicherheit andockte. Nach ihrer Pensionierung in dieser Tätigkeit startete Yvonne Popper nochmals als Wiener Polizeiamtsärztin neu durch.

Medical Murder Mystery: Wie bist Du auf die Idee gekommen, nach Deiner Karriere in der Arbeitsmedizin als Polizeiamtsärztin anzuheuern?

Yvonne Popper: Ich habe schon vor 30 Jahren die Amtsarztausbildung absolviert, den sogenannten Physikatskurs. Damals habe ich dann einmal kurz einen erkrankten Gemeindearzt in Perchtoldsdorf vertreten – zum Leidwesen der alteingesessenen Kollegen, die skeptisch auf die „junge Schulärztin“ geschaut haben – aber im Gegensatz zu ihnen hatte ich eben die entsprechende Qualifikation. Mit 60 hat sich die Frage gestellt, ob ich in Pension gehen möchte, gesetzlich war ich berechtigt. Zu dem Zeitpunkt haben mich Kollegen aus der Polizei angesprochen, dass Mediziner mit Erfahrung gesucht werden, und das schien mir reizvoll. Zehn Tage nach meiner Pensionierung habe ich schließlich den Vertrag als Polizeiärztin unterschrieben. Und ich bin sehr froh über diese Entscheidung. Auch wenn ich mich jetzt oft in der Welt bewege, von der ich gar nicht wusste, dass es sie gibt. Aber letztlich unterstützen wir die Gerechtigkeit.

MMM: Was machen eigentlich Polizeiärztinnen und -ärzte in Wien?

Yvonne Popper: Es gibt vier große Aufgabengebiete. Da ist zunächst einmal die Untersuchung von Häftlingen. In Österreich muss jeder Häftling – vom kleinkriminellen Fahrraddieb bis zum Mörder – innerhalb von 24 Stunden ärztlich untersucht werden, noch vor der Anhörung, bei der über die Anhaltung oder U-Haft entschieden wird. Hier geht es vor allem darum, die Haftfähigkeit zu prüfen. Da sind wir in den Polizeianhaltezentren tätig, aber manchmal fahren wir auch in die Wohnungen der zu Inhaftierenden. Zum Beispiel wenn jemand nur wegen offener Geldstrafen in Haft müsste, er oder sie aber gesundheitliche Gründe dagegen einwendet. Der zweite große Bereich ist die Begutachtung von ungeklärten Todesfällen. Das betrifft alle Leichenfunde im öffentlichen Raum, vermutliche Suizide, Drogentote, Brandleichen, die Leichen von Kindern, und natürlich alle Fälle, bei denen der Verdacht auf Fremdverschulden besteht. Das kann also ein Tatort sein, muss aber nicht. Auch nach assistierten Suiziden nach dem neuen Sterbeverfügungsgesetz müssen wir prüfen, ob alles ordnungsgemäß abgelaufen ist.

MMM: Kurze Zwischenfrage dazu: Sind Dir da, seit es das neue Gesetz gibt, schon verdächtige Fälle untergekommen?

Yvonne Popper: Nein, bisher nicht. Das war immer alles ordnungsgemäß dokumentiert, und auch nie eine verdächtige Auffindesituation.

MMM: Zurück zu Deinen Aufgabengebieten. Neben Häftlingsbegutachtung und Leichenbeschau, was gibt es noch zu tun?

Yvonne Popper: Das dritte Thema, das uns oft beschäftigt, ist die Untersuchung von Suchtgiftlenkern. Anders als bei Alkohol gibt es bei Drogen keine gesetzlichen Grenzwerte. Das heißt, man kann nicht einfach zum Alkomat greifen, der einen Promillewert ausspuckt. Daher muss aus ärztlicher Sicht festgestellt werden, ob eine Beeinträchtigung vorliegt – meistens geht es um Cannabis oder Kokain. Da gibt es eine ganze Reihe von standardisierten Tests, die wir in solchen Fällen durchführen.

MMM: Und die liefern dann eindeutige Ergebnisse?

Yvonne Popper: Wenn ich die nachfolgenden Bluttests zum Maßstab nehme, sind zwischen 95 und 98 Prozent positiv – bei den Personen, bei denen wir den Verdacht einer Beeinträchtigung haben. Zusätzlich zu den bewährten Tests geht es natürlich immer auch um die Gesamteinschätzung – wie spricht jemand, wie bewegt sich die Person und vieles mehr. Da hilft natürlich Erfahrung.

MMM: Zurück zu den Aufgabengebieten – was ist der vierte Bereich?

Yvonne Popper: Viertens geht es um die Beurteilung von Menschen in schweren psychischen Krisen, bei denen Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt oder vorliegen könnte. Das reicht von vergleichsweise harmlosen Beziehungsstreitigkeiten mit gegenseitigen Beschuldigungen bis zu schweren Psychosen. Wenn sich tatsächlich der Verdacht auf Selbst- oder Fremdgefährdung bestätigt, können wir eine Zwangseinweisung veranlassen. Das ist allerdings eine schwerwiegende Entscheidung, die gut überlegt sein muss. Neben diesen vier Gruppen von Hauptaufgaben gibt es dann fallweise noch andere Aufgaben. Zum Beispiel die Untersuchung von im Dienst verletzten Polizisten. Oder die Beurteilung von Verletzungen durch Raufhandel und durch Verkehrsunfälle, wobei wir da aber nur den Befund bekommen, um zum Beispiel eine leichte oder schwere Körperverletzung zu beurteilen, und nicht selbst untersuchen. Und dann gibt es noch die Begutachtungen für das Verkehrsamt, von Personen, die wegen Drogen und Alkohol ihren Führerschein verloren haben.

MMM: Wie muss ich mir Deinen typischen Arbeitstag vorstellen?

Yvonne Popper: Grundsätzlich sind rund um die Uhr immer diensthabende Polizeiärztinnen und -ärzte erreichbar. Wir sind immer zu zweit in einem Dienst. Tagsüber fahren wir selbst mit Dienstwagen zu den Einsatzorten, nachts haben wir einen Fahrer. Per Telefon bekommen wir von der Leitstelle die Einsatzorte durchgegeben. Pro Dienst habe ich wohl durchschnittlich so ein bis zwei Leichenfunde zu begutachten, bis zu fünf Fälle von schweren psychischen Auffälligkeiten und etwa zehn Häftlingsuntersuchungen. Heute gehe ich zum Beispiel nach unserem Gespräch noch zu einem Planquadrat der Polizei, da wird es sicher potenzielle Drogenlenker zu begutachten geben. Grundsätzlich brauchen die Leichenschauen am meisten Zeit, die Häftlingsuntersuchungen gehen relativ schnell. Nachts ist es meist etwas ruhiger. Häftlinge haben grundsätzlich eine gesetzliche Nachtruhe – es sei denn, es gibt einen Notfall – und verdächtige Todesfälle werden oft erst in der Früh entdeckt.

MMM: Bleiben wir bei der Totenbeschau. Gibt es Fälle, die Dir – bei aller Routine – in besonderer Erinnerung bleiben.

Yvonne Popper: Natürlich gibt es Fälle die besonders verdächtig sind – oder die einen einfach wegen der Umstände besonders berühren. Einmal wurde ich zur Begutachtung einer weiblichen Leiche gerufen – es war eine Frau meines Alters, die in einer Erdgeschosswohnung lag. Jemand hatte anonym gemeldet, sie durchs Fenster gesehen zu haben – was eigentlich kaum möglich war. Schon das war sehr verdächtig. Die Tür war nur ins Schloss gefallen, und die Frau lag mit heruntergezogener Jeans auf dem Boden, alle Schränke waren offen. Da haben schon alle Alarmglocken geläutet bei mir, und ich habe natürlich eine gerichtsmedizinische Obduktion empfohlen. So etwas passiert übrigens immer nach dem Mehraugenprinzip, bei einem solchen verdächtigen Todesfall sind immer auch eine Polizistin oder ein Polizist und eine Polizeijuristin oder ein Polizeijurist dabei. Sehr berührt hat mich auch ein Fall von Mumifizierung in einem Wiener Bezirk. Das war ein Mann, der zum Auffindezeitpunkt schon zwei Jahre tot in seiner Wohnung lag. Die Miete wurde weiter vom Konto abgebucht, die Nachbarn dachten, er sei verreist. Solche Fälle zeigen die erschreckende Vereinsamung, die es in der Großstadt geben kann. Auch Suizide machen oft betroffen. Ich erinnere mich an einen jüngeren Mann, der sich in der eigenen Badewanne erschossen hat, an seinem Geburtstag. Er hinterließ einen Abschiedsbrief, mit genauen Anweisungen, was mit seiner Urne passieren sollte. So eine traurige Entschlossenheit.

MMM: Was sind Kriterien, die einen Leichenfund zu einem verdächtigen Todesfall machen, oder zu einem, bei dem Fremdverschulden im Spiel sein könnte?

Yvonne Popper: Wir achten auf unterschiedlichste Faktoren. Ist ein Fenster im Erdgeschoss offen? Ist die Tür nicht richtig verschlossen? Gibt es Anwesende, die sich merkwürdig verhalten? Gibt es Verletzungen, die nicht ins Bild passen? Sind irgendwo Einblutungen zu entdecken? Bei Kindern sind wir natürlich ganz besonders aufmerksam. Auch wenn jemand sehr jung verstirbt, ohne schwer krank gewesen zu sein oder wenn die Todesursache von außen nicht erkennbar ist. In solchen Konstellationen empfehle ich eine gerichtsmedizinische Obduktion. Entscheiden muss es aber letztlich natürlich der Staatsanwalt oder die Staatsanwältin. Natürlich bedeutet ein verdächtiger Todesfall noch nicht, dass eine strafbare Handlung im Spiel sein muss. Gott sei Dank. Die Zahl der tatsächlichen Tötungsdelikte ist zum Glück nicht sehr hoch in Österreich.

MMM: Erfährst Du das als Polizeiärztin eigentlich später, was die Obduktion ergeben hat?

Yvonne Popper: Üblicherweise nicht, in das weitere Verfahren sind wir dann nicht mehr involviert. Bei einer Obduktion dabei zu sein ist der Ausnahmefall. Umgekehrt gibt es auch eher selten Rückfragen seitens der Gerichtsmedizin, weil wir ja all unsere Beobachtungen ganz detailliert in den Bericht schreiben.

MMM: Wie gehst Du eigentlich mit diesen vielen belastenden Erlebnissen und Ereignissen um?

Yvonne Popper: Die Tragödien, die wir sehen, erden sehr. Man lernt, dass materielle Dinge wirklich eine untergeordnete Rolle spielen. Ich habe schon viele Suizide in wunderschönen Wohnungen gesehen, wo die Menschen alles hatten – nur keinen Lebensinhalt und keinen Lebenswillen. Ich komme gut damit zurecht, meinen Arbeitsalltag hinter mir zu lassen, wenn ich nach Hause gehe. Nur manchmal gibt es Fälle, die mich wirklich verfolgen – wie das tote dreijährige Kind, das ich untersuchen musste, oder der 17-jährige Bursche, der meinem Sohn unglaublich ähnlichgesehen hat. Ich weiß von einigen Kolleginnen und Kollegen, denen die Belastung solcher Eindrücke zu viel wird.

MMM: Hast Du nach so einem Arbeitsalltag noch Lust auf Krimis?

Yvonne Popper: Vielleicht klingt es erstaunlich, aber ja, das habe ich. Ich lese sogar vor allem Krimis Thriller. Und ich schaue mir zur Entspannung auch gerne Krimiserien an. Zum Beispiel die SOKO Donau, die mag ich unter anderem, weil ich die Gebäude gut kenne, die vorkommen.

MMM: Aber Deine Profession ist nicht so gut abgebildet im Krimi, oder?

Yvonne Popper: Ich weiß ja nicht genau, wie in anderen Ländern die Arbeitsteilung zwischen Polizeiarzt und Gerichtsmedizin ist. Allerdings fällt schon auf, dass in den österreichischen Krimis die Polizeiärzte kaum eine Rolle spielen. Dabei sind wir so gut wie immer am Tatort. Anders als im Fernsehen kommen die Kolleginnen und Kollegen von der Gerichtsmedizin nur in ganz besonderen Fällen direkt zum Tatort. Also ein bisschen mehr Polizeiärzte in den Krimis, das wäre schon gut.

Interview: Birgit Kofler

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